2007
IMMORTAL
-
Das Blut des Franken
by Scott Jenkins
1. Zyklus
2014 - 2024
Er hatte seinen Blick nachdenklich auf den Monitor gerichtet, während er die Seiten des Nachrichtenportals im Internet überflog. Manchmal, wenn er Glück hatte, erschienen neue Nachrichten, die Italien betrafen. Nachrichten über Neapel. Heute hatte er wie so oft kein Glück. Es erschienen Neuigkeiten über Rom oder Verona – Mailand – Turin. Aber nicht Neapel. Gleichermaßen erfreut wie ernüchtert nahm er diese Tatsache wahr. Es würde dauern, bis er wieder einmal eine ganz bestimmte Art von Nachrichten aus Neapel las oder hörte.
Neapel – wo er selbst nicht wenige Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Phillippe Soiret de Camarque schloss seine Augen und rieb sie sich. Wann er wohl wieder von ihr hören würde? Nicht dass er scharf darauf war – nein, wichtig war es.
„Monsieur?“, hörte er eine junge weibliche Stimme.
Er kam wieder zu sich und sah in die blauen Augen einer Studentin.
„Verzeihen Sie – ich suche Bücher über die Zeit der Normannen. Können Sie mir weiterhelfen?“
Phillippe nickte und erhob sich. „Belletristik oder Sachbuch?“
„Sachbuch, Monsieur.“
Ein Sachbuch über die Normannen wollte die junge Frau haben. „Aber sicher doch – kommen Sie!“
Die Normannen, dachte Philippe. Und grinste wieder. Selbst seine ungewöhnliche Vergangenheit hatte später begonnen.
Er führte die junge Studentin in jenen Bereich, wo die meisten Bücher über die frühe Völkerwanderung zu finden waren und kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück. Wo ihn bereits die nächste Studentin erwartete.
Als Phillippe die hellblonde Mähne von Judy Broker sah, erhöhte sich für eine Sekunde sein Herzschlag, beruhigte sich aber sogleich wieder. Die angehende Kunsthistorikerin war die hübscheste Frau, die ihm seit langem begegnet war. Erstens war sie zwar keine Französin, sondern Engländerin und zweitens – da Phillippe in seinem Leben schon sehr vielen Frauen begegnet war, war das eine enorme Leistung. Nur eine Frau gab es, die von ihrer Erscheinung her mit Judy annähernd mithalten konnte. Lydia. Seine erste Frau. Der Klang ihres Namens schaffte es sehr oft, Erinnerungen in ihm wachzurufen, die schon weit zurücklagen. Weiter, als es sich jeder andere Mensch erträumen würde.
Er selbst hatte ein scheinbares Alter von etwa dreißig Jahren, so jedenfalls wurde er meistens geschätzt. Sein wahres Alter kannte niemand. Jeder, der versuchte zu raten, lag grundsätzlich falsch.
Inzwischen hatte er seinen Platz wieder erreicht und begrüßte Judy.
„Hallo Judy“ – „Hallo Phillippe“
Sie lächelte ihn in einer Weise an, die normalerweise jedes Männerherz zum Schmelzen bringen würde. Nicht, dass dies bei ihm nicht der Fall war – er fand ihr Lächeln wahrlich bezaubernd, jedoch achtete er zur Zeit eher weniger auf weibliche Reize.
„Wie kann ich dir helfen, Judy?“
„Gotik im Mittelalter“
Er nickte kaum merklich. „Haben wir denn schon die Romanik durch?“
Judy nickte freundlich. „Romanik ist durch.“
„Dann komm mit!“
Er nahm den gleichen Weg, durch den er gerade noch die andere Studentin geführt hatte, lief dann aber doch in einen anderen Bereich.
„Dann kannst du dich hier an dieser Wand austoben“, erklärte er ihr scherzhaft und deutete auf eine Bücherreihe, die über eine volle Seite ging.
Judys braune Augen lächelten ihn an. „Danke sehr, Phillippe.“
Er nickte ihr zu und wollte gerade gehen. „Und – was macht Jason so?“
Jason Narrows war Judys Freund, mit dem sie, wie er herausgehört hatte, seit einem halben Jahr zusammen war.
„Er baut wieder mal an einem Häuserentwurf herum.“
Aufgrund seiner Erfahrung und Menschenkenntnis schaffte es Philippe, herauszuhören, dass Judy dies ohne jede Begeisterung sagte. Sie schien mit Jason zusammen zu sein, um überhaupt jemanden bei sich zu haben. Philippe hatte zwar Mühe, sich vorzustellen, dass Judy jemals einen Mangel an Verehrern haben könnte, aber der derzeitige Stand ihrer Beziehung schien ihr ausreichend zu sein. Judy Broker war Ende zwanzig, sie stand noch am Beginn ihres Lebens.
Der Beginn des Lebens. Wann war dies für ihn gewesen? Zu einer Zeit, als Judy noch nicht auf der Welt gewesen war. Gedankenverloren, sah er die blonde Schönheit einige Zeit lang an, bis sie ihn aus den Gedanken riss.
„Ich glaube ich habe eines.“
Er nickte ihr freundlich zu und verließ sie für den Moment.
Die nächsten zwei Stunden verliefen ohne weitere Ereignisse, am frühen Abend war er wieder in seinem Apartment, wobei er fast über zwei Menschen – sie schienen Ermittlungsbeamte zu sein - stolperte, die wohl auf ihn gewartet hatten.
„Monsieur Soiret?“, fragte ihn der eine weibliche Beamte, die gemeinsam mit ihrem Kollegen auf ihn zu lief.
„Ja?“
„Ich bin Inspecteur Deschamps, das ist Inspecteur Carambeau. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“
Sie zeigte ihm ihren Ausweis, den er mit geübtem Blick als selbstverständlich echt identifizierte.
Phillippe nickte. „Natürlich. Möchten Sie hereinkommen?“
Madame Inspecteur nickte gleichfalls und folgte ihm in sein Apartment.
Während er seine Sachen ablegte, sahen sich beide um.
„Monsieur, ich komme gleich zur Sache. Wir verfolgen einen seltsamen Fall von Identitäts-verschleierung. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.“
„Bitte.“
„Ihr vollständiger Name ist Phillippe Soiret de Camarque?“
Er nickte. „Sie sagen es.“
„Nun Monsieur, vor etwa dreißig Jahren wurde ein Baby unter dem gleichen Namen geboren – Phillippe Soiret. Allerdings starb es zwei Wochen nach der Geburt. Ihr Geburtsdatum ist das Gleiche. Ist das ein Zufall?“
Phillippe hob seine Augenbrauen. „Hört sich so an.“
Sie trat noch einen Schritt an ihn heran.
„Es gibt jedoch keine Unterlagen über Ihre Eltern. Können Sie uns weiterhelfen?“
Phillippe lachte innerlich. Seine Eltern…
„Ich bin seit meiner Geburt Waise, Madame.“
„Oder wir haben jemanden, der seit Jahrzehnten herumschleicht und die Identitäten verstorbener Babys annimmt.“
Phillippe spürte, wie er Spaß an der Unterhaltung bekam. Leider würde sie mit einiger Wahrscheinlichkeit meilenweit an der Wahrheit vorbei gehen.
„Wie soll denn das funktionieren? Und wieso sprechen sie im Plural?“
„Weil, Monsieur, wir diese Vorfälle sagenhafte zweihundertfünfzig Jahre zurückverfolgen konnten.“
Sie zog eine Liste hervor. „Etwa dreißig Jahre davor haben wir ein ebenfalls früh verstorbenes Baby namens Phillippe Dubois. Trotzdem konnten wir herausfinden, dass ein solcher Phillippe Dubois gleichen Geburtstages neunzehnhundertvierundfünfzig sehr aktiv gewesen ist.“
Bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort. „Und es geht weiter. Vor achtzig Jahren der gleiche Fall – ein gewisser Phillippe Henry. Vor über einhundert Jahren Phillippe Rougé. Und so weiter und so weiter. Bis hinein ins achtzehnte Jahrhundert.“
„Und was schließen Sie daraus, Madame Inspecteur?“
„Nun, Monsieur, entweder eine Aneinanderkettung von unglaublichen Zufällen, oder aber…“
„Zufälle gibt es, Madame.“
„Monsieur – ein Zufall mag passieren, zwei Zufälle sind ein hoher Seltenheitswert, aber alles Weitere hat einen Zusammenhang.“
„Und welchen Zusammenhang können Sie erkennen?“
Sie schwieg einen Moment.
„Nun, der Schluss, zu dem ich kommen würde, geht dann ins Reich der Phantasie. Oder aber wir haben es mit einem etwa dreihundert Jahre alten Mann zu tun.“
Sie ist erstaunlich nah dran, dachte Phillippe.
„Nun, das wäre doch etwas für das Guinness-Buch“, erwiderte er.
Sie sah in noch einige Sekunden nachdenklich an.
„Haben Sie denn schon einmal einen dreihundert Jahre alten Mann gesehen, Madame?“
„Nein. Danke für Ihre Zeit, Monsieur.“
Er nickte. „Aber natürlich.“
Phillippe wartete noch, bis die beiden Beamten wieder weggefahren waren. Anschließend verließ er ebenfalls seine Wohnung, setzte sich in seinen zehn Jahre alten Peugeot und fuhr etwas Richtung Süden, bis er einen unscheinbaren Laden erreichte, der von außen her kaum etwas hermachte.
Phillippe betrat das Geschäft, lief zielsicher hindurch und schlug einen Vorhang beiseite, um einen hinteren Bereich des Ladens zu betreten. Ein junger Mann Mitte dreißig hockte vor einer großen und aufwendig aussehenden Computeranlage.
„Guten Abend, Sebastien.“
Der Mann, sein Angestellter, grinste ihn an, blieb aber vor seinem Monitor sitzen.
„Guten Abend, Phillippe.“
Dann die Frage, die er Sebastien wie üblich, wenn er her kam – was jeden Dienstag, also heute, und Freitag war: „Was gibt es Neues?“
„Nur ein Banküberfall gestern Abend. Wenn du mich fragst, plant sie jetzt eine der letzten drei freien Versicherungsgesellschaften zu übernehmen.“
Phillippe war inzwischen neben seinen Mitarbeiter gelaufen und besah sich die Meldung der Mattino, einer napolischen Tageszeitung. Eine Bank war um fünfzehn Millionen Euro erleichtert worden.
„Du meinst, sie lässt ihre eigene Bank überfallen, bedroht wie üblich die halbe Stadt und lässt das über die Versicherungspolice decken?“
Sebastien nickte. „Wäre möglich. Allerdings wäre das ziemlich umständlich. Sie kann doch locker die Versicherungsgesellschaft aufkaufen.“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Da kennst du Lydia aber schlecht. Die einfach aufzukaufen, wäre viel zu unbefriedigend für sie. Nein, sie hat wie üblich ihren Spaß damit.“
Sebastien zuckte die Schultern. „Seltsam, was einige Leute unter Spaß verstehen.“
Phillippe setzte sich.
„Lydia hat das moderne Verbrechen erfunden und aller fünfzig Jahre den Begriff jedes Mal neu definiert.“
„Wie kommst du damit klar?“, horchte sein Sebastien.
„Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt.“, erwiderte Phillippe resigniert. „Klar, ich bin für das, was auch Lydia geworden ist, verantwortlich, aber sie ist diejenige, die sich für diesen Weg entschieden hat.“
Bedächtig wie nachdenklich fuhr er mit seiner Hand über seinen Unterkiefer.
„Das sehe ich auch so.“
Phillippe nickte. „Sonst noch etwas?“
Sebastien schüttelte den Kopf. „Nichts, was Napoli betreffen würde. Was macht die Gegenspionage?“
Phillippe verneinte. „Fehlanzeige. Lydia hat mich früher ab und zu beschatten lassen aber ich bin ihr wieder mal zu harmlos. Vermutlich.“
„Du meinst, du würdest Schattenleute schnell erkennen?“
„Mit Sicherheit. Wenn ich etwas von Lydia gelernt habe, dann, wie man Spione erkennt.“
„Vielleicht ist das der Grund, warum sie keine schickt? Weil du sie schnell enttarnen würdest?“, horchte sein Freund und Mitarbeiter.
„Das denke ich auch.“
Er schwieg für einen Moment.
„Lydia wird nie Ruhe geben. Napoli ist in ihrer Hand, bald ganz Italien. Und danach soll Europa dran kommen.“
„Bei letzterem wirst du aber ein Wörtchen mitreden, nehme ich an?“
„Natürlich. Suche dir lieber eine anständige Frau, Sebastien. Ich habe damals diesen einen gewaltigen Fehler begangen, der mich bis in alle Ewigkeit zeichnen wird.“
Sebastien wiegte den Kopf. „Du kannst doch nichts dafür, dass du so bist wie du bist.“
Phillippe blies die Luft aus. „Das macht die Sache auch nicht leichter.“
„Wieviel Geld hat deine Ex eigentlich? Zehn Milliarden? Fünfzehn? Zwanzig?“
Phillippe zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, ich habe schon vor langem aufgehört, darüber nachzudenken. Aber wahrscheinlich irgendwas zwischen fünfzig und einhundert Milliarden. Die paar Kröten, die ich habe, reichen mir.“
Sebastien machte große Augen. „Einhundert Milliarden? Das kann man doch nie im Leben ausgeben!“
Phillippe schüttelte wiederholt den Kopf. „Darum geht es auch nicht. Nicht wirklich. Das Geld dient ihr zum Machterhalt. Erweiterung des Einflusses. Wenn sie wirklich bald ganz Italien kontrollieren will, muss sie Tausende Leute schmieren. Nun, der übliche Mafiakram halt.“
„Wie läuft deine Gegenspionage, Sebastien? Alles auf den neuesten Stand?“
Sein Freund nickte. „Ich kann nicht abgehört werden, wenn du das meinst. Der passive Schutz ist gut investiert.“
„Halte weiter die Augen und Ohren offen.“
Sebastien nickte. „Wie immer.“
„Ich will nicht eines Tages an deinem Grab stehen müssen, weil wir unvorsichtig waren.“
„Du wirst eines Tages an meinem Grab stehen, das weißt du so gut wie ich.“
Phillippe sah seinen Freund vielsagend an, dann verabschiedete er sich und verließ den Laden wieder.
Die nächsten Tage verbrachte Phillippe wie üblich in seinem ‚normalen’ Job als Bibliothekar an der inzwischen größten Universität Frankreichs, der Université Paris 12 Val-de-Marne.
Er bedauerte es sogar etwas, dass er Judy am Mittwoch und Donnerstag nicht sah, doch am Freitag stand sie plötzlich wieder an seinem Platz.
Ihr Lächeln schien jedoch verschwunden, er spürte sofort, dass etwas passiert war.
„Ich brauche ein neues Buch, Phillippe.“
Er nickte. „Schauen wir mal.“
Phillippe nahm den Zettel, auf dem sie das gesuchte Buch vermerkt hatte, dann zog er sie wieder in den gleichen Bereich wie am Dienstag.
„Danke“, sagte sie kurz und knapp.
„Ist alles in Ordnung?“, horchte er vorsichtig.
Für einen Augenblick schien sie innerlich fast zu explodieren, dann sackten ihre Schultern herunter.
„Nein.“
„Willst du darüber reden?“, schlug er vor. „Ich kann gut zuhören.“
Es tat ihm richtig leid, dass dieses bildhübsche Gesicht so traurig und wahrscheinlich sogar wütend heute war.
Judy überlegte ein paar Sekunden. „Also schön, warum auch nicht.“
Sie setzten sich auf die Couch neben ihnen.
Phillippe merkte aber schnell, dass Judy nicht recht wusste, wo sie anfangen sollte.
„Lass mich raten – Jason hat dich betrogen.“
Entsetzt sah Judy ihn an, nickte dann aber und schloss krampfhaft die Augen.
„Du scheinst eine gute Menschenkenntnis zu besitzen.“
Phillippe nickte. „Ja, die habe ich zwangsläufig.“
„Zwangsläufig?“, horchte sie. „So alt siehst du aber gar nicht aus.“
Phillippe grinste. Das einzige Thema, über das er mit niemandem außer Sebastien bisher reden konnte.
„Wie alt schätzt du mich denn, Judy?“
Ihr Blick begann ganz langsam etwas sanfter zu werden.
„Anfang bis Mitte dreißig.“
Wieder grinste er. „Ich denke, das geht in Ordnung.“
„Aber mit dreißig kann man noch kaum Menschenkenntnis haben. Ich wünschte, ich hätte sie. Dann hätte mir Jason nicht so wehtun können.“
Phillippe nickte erneut. „Er hat dich verletzt. Und nun bist du enttäuscht, traurig und stocksauer.“
Judy wiegte ihr hübsches Haupt. „Ja, das ist richtig.“
„Dann könnte man ganz salopp sagen, dass er dich nicht verdient hat.“
Sie sah ihn nachdenklich an, dann lehnte sie sich zurück und flegelte sich regelrecht in den Sessel.
„Ich denke, das ist auch richtig. Es ist zwar leicht gesagt, aber trotzdem richtig.“
„Glaube mir, Judy, hätte er dich wirklich geliebt, wäre das, was geschehen ist, nicht passiert.“
Judys Gesicht wurde immer fassungsloser, verbunden mit Überraschung und Neugier.
„Dann möchte ich dir jetzt auch etwas sagen, Phillippe.“
„Gern.“
„Du hast die interessantesten und geheimnisvollsten Augen, die ich jemals bei einem Menschen gesehen habe.“
Peng. Sie hatte den Schlüssel zu seiner Vergangenheit berührt, ohne sich darüber im Klaren zu sein.
„Danke.“, grinste er.
„Ich muss sogar gestehen - wenn ich in deine Augen sehe, habe ich das Gefühl, dass du viel mehr von der Welt gesehen hast, als es dein Alter erlaubt.“
Er hob die Augenbrauen.
„Ich habe einiges von der Welt gesehen, das ist richtig, Judy.“
„Darf ich fragen, ob du eine Freundin hast, Phillippe?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine.“
Ihr Gesicht zeigte kurzes Bedauern. „Oh. Das ist schade.“
„Es ist im Moment besser so, Judy.“
„Wo wohnst du eigentlich?“
Eine der Fragen, wenn es um das Aufbauen einer möglichen Beziehung geht, dachte Phillippe. Aber irgendetwas sagte ihm, dass Judy es ruhig wissen konnte. Weil sie so hübsch war? Zugegeben, Judy hatte selbst auf ihn eine Ausstrahlung, wie es nicht einmal bei Lydia damals, als er sie kennen gelernt hatte, der Fall gewesen war. Phillippe wusste, dass er eines Tages auf jeden Fall eine neue Frau wollte. Diese würde dann mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden und mit vielem mehr. Auch ihr Leben würde sich gewaltig ändern. Konnte Judy diese Frau sein? Er wusste es nicht.
„Willst du es mir nicht sagen?“
„Rue de la Liberté 2. Fünf Minuten mit dem Auto von hier.“
Judy nickte. „Ich weiß wo das ist.“
„Warum wolltest du das denn wissen, Judy?“, erkundigte er sich. Die Frage war zwar nur rhetorischer Art für ihn, aber das wusste sie natürlich nicht.
Ihr Blick ging für einige Sekunden ins Leere. „Vielleicht besuche ich dich ja irgendwann einmal.“
Natürlich. Das war dann automatisch der nächste Punkt in der Reihenfolge nach Kenntnis seiner Adresse.
„Habe ich dir denn ein wenig helfen können, Judy?“
Sie versuchte zu lächeln, aber so richtig gelang ihr dies nicht. „Ich weiß es nicht. Vielleicht… ja, Phillippe. Vielen Dank.“
„Gern geschehen.“
Aber sie ging noch nicht, jetzt merkte Phillippe auch, dass ihr Blick auf seine Brust ging.
„Was ist das eigentlich für ein interessantes Stück um deinen Hals?“
Phillippe nahm das kleine Stück Metall, dass an seiner Kette um den Hals hing.
„Ein Familienerbstück.“
Er sah, dass Judys Augen nun Interesse zeigten.
„Darf ich?“
Er nickte und Judy kam dicht an ihn heran, sie nahm das kleine Metallstück zwischen ihre Finger. Ihr Kopf kam dabei nah an den seinen heran. Sehr nah. So nah war sie noch nie an ihm gewesen.
Phillippe spürte ihren Duft, er fühlte ihre Nähe. Er glaubte sogar ihre innere Zerrissenheit zu spüren, ihre Verzweiflung.
Seine Augen glitten zwischen ihren Fingern, ihren Augen und ihrem Mund hin und her. Er verspürte sogar für einen Moment den Drang, den Kopf zu drehen und Judy zu küssen. Merkte sie etwas? Oder war sie zu sehr mit seinem Halsumhänger beschäftigt?
„Das ist ein sehr altes Stück, Phillippe. Ich würde gerne im Internet nachsehen, weil ich gern mehr darüber wissen möchte...“
Jetzt sah sie zu ihm hoch, ihre Augen waren nur ein Hauch von seinen entfernt.
„Ich muss gehen“, löste sie sich nach einer winzigen Ewigkeit. „Wir sehen uns.“
Am nächsten Tag sah er sie in der Uni nicht, dafür klingelte es am frühen Abend an seiner Tür.
„Entschuldige, wenn ich dich überfalle. Ich habe ein paar Fakten über dein Erbstück zusammengetragen.“
Mit einem eleganten Wink bedeutete er ihr, seine Wohnung zu betreten. Neugierig sah sie sich bei ihm um.
Er nahm ihr den Mantel ab, dann setze sie sich auf die geräumige Wohnzimmercouch.
„Möchtest du etwas trinken?“
„Hast du Wein da?“
Und ob er welchen da hatte. Einen, den er vor lange Zeit im Süden Frankreichs erstanden hatte.
„Super.“, freute sie sich, als er bestätigte.
„Wie geht es dir, Judy?“
Überrascht sah sie ihn an, dann traten Tränen in ihre Augen.
„Es ist eine Weile her, dass mich das jemand gefragt hat.“
Wie ist denn der neueste Stand, hätte er fast gefragt.
„Es geht... soweit.“
Judy nahm einen Schluck Wein. Ihre Augen gingen an einen unbestimmten Punkt vor ihr.
„Weisst du, ich...“, sagte sie weiter und schüttelte den Kopf, „bin im Moment sehr durcheinander, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.“
Phillippe nickte. „Kann ich.“
„Ich habe mich mit Jason auch noch nicht aussprechen können, gestern hat er nur ‚hallo und auf wiedersehen‘ gesagt.“
„Hat er denn kein Interesse an einem Aufklären?“
Judy atmete tief durch.
„Ich weiss es nicht.“
Sie trank das Glas Wein in einem letzten Zug aus und stellte das Glas ab.
„Ich weiss einfach nicht mehr, was überhaupt noch los ist.“
Jetzt sah sie ihm in einer Ellenlänge in die Augen und lehnte ihren Kopf an die Couch. Er nahm nun seine Hand und strich ihr sanft über die Wange. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge, die sie fast überrascht wie beschämt wegwischte.
Jetzt sah sie wieder auf das kleine Metallstück, das sie wieder zwischen ihre Finger nahm.
„Das hier ist genauso verwirrend. Meine Recherchen haben ergeben, dass diese Art der Verarbeitung eigentllich auf das Mittelalter hindeutet. Und zwar eine sehr frühe Zeit, es könnte sogar in der Zeit von Otto I angefertigt worden sein. Wenn nicht sogar noch früher.“
Ein wenig überrascht war er, wie nah Judy mit ihrer Analyse an seine Vergangenheit herankam. Wieder kamen ihre Augen den seinen nah, aber ehe er sich versah, neigte sie ihren Kopf und küsste ihn fest auf den Mund. Auch wenn er beinahe damit gerechnet hatte, löste sie sich doch schneller wieder von ihm, als ihm lieb war.
Ihre Augen zeigten, dass sie selbst erschrocken war - Judy lief zu seinem Fenster und lehnte sich an seine andere Couch. Langsam erhob er sich und ging neben sie.
Phillippe sah, dass es draussen mittlerweile in Strömen regnete, aber auch Judys Gesicht wurde von Sekunde zu Sekunde feuchter.
Eine Idee kam ihm auf.
„Bist du offen für einen Vorschlag?“
Er sah, dass sie versuchte zu lächeln.
„Sicher.“
„Komm mit.“
Er nahm ihre Hand, führte sie zur Tür, ging auf den Flur und von dort zur Haustür.
„Was hast du vor? Es schüttet draussen.“
„Vertraust du mir?“
Ihr verstärkter Handdruck sagte ihm ‚ja‘.
„Ok.“
Er öffnete die Tür und zog Judy in den Regen, der beide schnell durchnässte. Phillippe schlug ein paar Haken und führte sie auf eine grosse Rasenfläche, die kaum zu übersehen war. Örtlich waren einige Weiden zu sehen.
Sie blieben stehen und Judy wischte mehrmals über ihr Gesicht, auf dem sich kleinere Regentropfen in größere vereinigten. Sie grinste ihn an und führte nun auch ihre andere Hand um seine rechte.
Judy atmete tief durch, schloss die Augen und hob ihren Kopf leicht.
Phillippe glaubte zu spüren, was in ihr vorging. Das war auch der Grund gewesen, warum er sie zu diesem Spaziergang überredet hatte. Und er liess ihr die Zeit.
„Na komm, gehen wir weiter.“, sagte sie kurze Zeit später.
Eine Stunde später waren sie zurückgekehrt, Judy verabschiedete sich mit einem Küsschen auf die Wange, dann war er wieder allein.
Er hatte zwar gehofft, sie am nächsten Tag wiederzusehen, da er sich ein klein wenig eingestehen musste, dass sich sein Herz etwas für sie erwärmt hatte, doch er musste sich einen weiteren Tag gedulden, bis Judy wieder bei ihm klingelte.
Phillippe nahm ihr wieder den Mantel ab, dann fühlte er dankbar ihre Arme um seinen Hals und ihre Lippen an seiner Wange.
„Wie fühlst du dich?“
Ihre Arme blieben vorerst bei ihm, ihre Augen sahen ihn an und er sah, dass sich eine Veränderung in ihr vollzogen hatte.
Judys Kopf tauchte nach vorn und ihre Lippen fanden seine Wange einen Hauch neben seinem Mundwinkel. Er spürte die Wärme ihres Mundes. Und plötzlich...
Mit all der Erfahrung, die er hatte, löste er sich von ihr, nahm schnell ihre Hand und lehnte sich an seine Couch.
Er sah ihren fragenden Blick.
„Stimmt was nicht?“
„Judy“, erwiderte er, „deine Nähe tut mir sehr gut.“
Sie lächelte ihn an auf eine Weise, die den kältesten Eisblock geschmolzen hätte. Und wieder reagierte sein Körper auf sie. Aber weniger in seiner Hose, als in seiner Brustgegend.
„Und du tust mir auch sehr gut, Phillippe. Du tust mir sehr, sehr gut.“
Sie nahm seine Hände zwischen ihre und führte sie an ihre Lippen.
„Du hast mein Herz angesprochen. Und deswegen hat mein Herz gestern eine Entscheidung getroffen. Jason und ich werden uns in Zukunft nicht mehr sehen. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen und ihm damit meine Entscheidung mitgeteilt.“
Wieder küsste sie seine Hände. Auch wenn er innerlich jubelte, spielten seine anderen Gefühle im Moment etwas Achterbahn. Judy wirkte mit einer Lieblichkeit, die heute noch ausgeprägter und lebendiger war als zuvor, daß ihre Ausstrahlung ihm mehr und mehr wie die eines Engels vorkam.
„Es gibt aber etwas, Phillippe, was ich nicht verstehe.“
„Und was wäre das?“
Sie neigte ihren Kopf etwas.
„Du wirkst auf mich auf eine Weise, die mich immer noch verwirrt. Du strahlst Stärke aus, Standfestigkeit und Ruhe, wie man das mit dreißig oder auch Mitte dreißig eigentlich nie haben kann. Und wie ich es vor Tagen auch schon gesagt habe – deine Augen strahlen eine Erfahrung aus, die dich älter erscheinen lassen.“
Er mied jetzt ihren Blick, da sie tiefer zu ihm vordrang als bisher. Überlegend sahen seine Augen an unbestimmte Punkte in seinem Appartment.
Phillippe überlegte einige Sekunden lang. Wie viel sollte er ihr erzählen, ohne zu viel zu verraten?
„Judy, so wie du mich beschrieben hast...“
Er löste sich erneut von ihr und lief zwei, drei Schritte.
„Es gibt Dinge in meinem Leben, die… mehr als geheimnisvoll und mysteriös sind. Wenn ich mich – zum Beispiel - mit einer Frau einlassen würde, würde sich mein Leben mehr oder weniger auf sie übertragen.“
Judys Augenbrauen sanken herunter.
„Ich verstehe nicht.“
Tausende Gedanken schossen durch seinen Kopf. Sie waren bereits an dem Punkt angelangt, wo er, wollte er sie nicht einweihen, nichts mehr sagen durfte.
„Phillippe – bitte sag es mir.“
Wieder kam sie zu ihm und ergriff seine Hände.
„Lass mir bitte ein paar Minuten Zeit.“
Er erhob sich und schritt zum Fenster. Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, hunderte Male versuchte er, Für und Wider gegeneinander abzuwiegen. Er hatte diesen Punkt geahnt. Er hatte gewusst, dass es eines Tages so weit sein würde, eine Frau, für die er mehr als romantische Gefühle empfinden würde, einzuweihen. War es jetzt soweit? Er spürte, dass diese Entscheidung, die er jetzt treffen musste, sein Herz mehr zum Rasen brachte, als die Tatsache, dass Judy und er sich so nahe gekommen waren.
Er blies laut aus. Schritt langsam zurück, setzte sich neben sie und sah in ihre braunen Augen.
„Was ich dir jetzt sage, Judy, wird sich unglaublich, grotesk, ja wahnsinnig anhören.“
Wieder legte sie ihre Arme um seinen Hals und schüttelte kaum merklich den Kopf dabei.
„Erzähl es mir.“
Phillippe merkte, wie er immer noch zögerte, aber Judy hatte eine gar wundervolle Ausstrahlung und Wirkung auf ihn.
„Du hast ganz recht gesagt, dass meine Augen mehr Erfahrung ausstrahlen würden, als ich aufgrund meines scheinbaren Alters haben kann.“
Judy nickte. „Richtig.“
„Damit hast du auch Recht. Denn… ich bin älter, als ich aussehe. Viel älter.“
Ihre Augen wurden groß.
„Vierzig? Aber du bist keine fünfzig! Es sei denn - du hast eine Art Jungbrunnen entdeckt.“
Phillippe grinste.
„Ja, das mit dem Jungbrunnen ist denke ich nicht ganz so verkehrt.“
„Phillippe, wie alt bist du?“
Seine rechte Hand fuhr ihr mehr als gekonnt über die Wange.
„Rate weiter, Judy.“
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich beinahe in Belustigung.
„Einhundert?“
„Weiter.“
Judys Gesicht wurde blass. Sie machte eine Bewegung, als ob sie sich erheben wollen würde, aber sie richtete sich nur auf.
Über eine Minute sah sie ihn abschätzend an. Und wohl nur der Blick in seine Augen schien sie daran zu hindern, ihn für den Moment als unglaubwürdig abzustempeln.
„Zweihundert? Dreihundert?“
„Rate weiter.“
„Dann wärst du ja in der Renaissance oder gar im späten Mittelalter geboren.“ - „Eintausend?“
Er grinste. „Es wird langsam warm.“
„Sag’s mir bitte“
Noch einmal atmete er durch.
„Also gut. Ich wurde im Jahre des Herrn siebenhundertsechsundachtzig als Sohn von Emilie Deschenne und Paul de Boutricourt geboren. Meine Mutter war Bedienstete am Hofe Karls des Großen. Mein Vater ist relativ früh im Kampf gegen die Sachsen gefallen. Ich selbst bin – wie das weiß ich nicht und werde es auch vielleicht nie erfahren – durch einen noch unbekannten Gen-Defekt in einen Zustand geraten, durch den ich durch keine Kugel, kein Schwert, keine Krankheit, kein Gift, auch nicht durch das Alter – sterben kann. Mein richtiger Name ist daher auch Phillippe de Boutricourt und nicht Soiret de Camarque.“
Judys Gesicht hatte sich entspannt und sah ihn vergnügt an.
„Natürlich glaubst du mir kein Wort, was ich dir auch nicht übel nehme. Weil ich es mir andersherum auch nicht glauben würde.“
„Phillippe – es gibt keine Menschen, die… unsterblich sind.“
Er nickte sanft. „Ich wünschte manchmal, dem wäre so.“
„Warum erzählst du mir so ein Wahnsinnsseemannsgarn?“, grinste sie.
„Dann muss ich es dir vorführen.“
„Was vorführen?“
Phillippe stand auf, ging in die Küche und holte aus einer Schublade ein Messer heraus. Dann ging er zu Judy zurück. An der Couch zog er sich das Hemd aus.
„Phillippe – was hast du vor?“
„Ich will es dir zeigen.“
Ihr Unterkiefer klappte herunter, langsam, fast wie in Zeitlupe erhob sie sich. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein! Nein… bitte… hör bitte auf damit… Phillippe, du machst mir Angst! Hör auf oder ich gehe!“
Er verspürte ihre Angst und beschloss, einen Trick anzuwenden.
„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht verängstigen.“
Er nahm das Messer scheinbar herunter. Dann drehte sich Judy wieder um, um sich hinzusetzen. In dem Moment rammte er sich das Messer blitzschnell in dem Bauch. Und stöhnte vor Schmerzen auf.
„NEIIINNN!! PHILLIPPE! Was machst du denn?!“
Er sackte auf das Parkett hinunter.
„Was machst du denn nur?!“
„Scheiße… tut das jedes Mal weh…“
„Ich rufe einen Krankenwagen!“
„Nein… das ist… nicht nötig. Gib mir… eine… Minute… Zeit… bitte…“
Vollkommen fassungslos sah sie ihn an. Dann aber schien sie fast verrückt zu werden, als sie sah, wie die Wunde sich bei ihm wieder zu schließen begann. Nach einer Minute war sein Körper wieder heil. Er hatte lediglich Blut verloren.
Judys Augen verdrehten sich, dann kippte sie ohnmächtig nach hinten.
„Entschuldige bitte“, sagte er, obwohl sie ihn wahrscheinlich nicht hören konnte. Dann hob er ihren Körper sanft auf seine starken Arme und hievte sie auf die Couch. Phillippe ging in die Küche, reinigte seinen blutverschmierten Bauch, machte anschließend ein Handtuch nass, lief zur Couch zurück und betupfte damit Judys Stirn. Kurz darauf war sie auch wieder wach und sah ihn ernüchtert an.
„Ich muss mich tausend Mal bei dir entschuldigen. Erstens dass ich dich hereingelegt habe und dir zweitens das zugemutet habe. Nimmst du meine Entschuldigung an?“
„Ich brauche einen kräftigen Schluck. Gibt’s du mir mein Glas?“
Phillippe reichte ihr das noch volle Weinglas, das sie in fast einem Zug austrank.
„Oh – der ist gut.“
Er nickte. „Ein 1767er.“
Judy sah ihn für einen Moment überrascht an.
„Ach so.“
„Nimmst du meine Entschuldigung an?“
Sie zog einen kleinen Flunsch und drückte beruhigend seine Hand.
„Aber so hatte ich mir den Abend eigentlich nicht vorgestellt.“
Beschämt nickte er. „Kann ich mir denken.“
Beinahe ängstlich fuhr sie über seinen Oberkörper, auch über die Stelle, wo er fünf Minuten zuvor zugestochen hatte. Es war auch keine Narbe zu sehen. Sie sah zu seinem kleinen Metallstück hoch.
„Das ist dann wohl auch die Erklärung für dein Erbstück. Du hast es selbst gemacht damals...“
Phillippe nickte - Judy versenkte den Kopf in ihre Hand.
Wieder streichelte er sanft mit der seinen über ihre Wange.
Dann – nach ein paar Minuten - löste sie ihre Hand wieder und sah ihn müde an. „Phillippe… ich… brauche Zeit. Das ist für mich zu viel auf einmal. Ich meine – erste verknalle ich mich in dich, trenne mich von Jason, und jetzt...“
Verstehend nickte er, obwohl er sogar in seinem Inneren beinahe jubelte, daß Judy so viel für ihn empfand nach der kurzen gemeinsamen Zeit.
„Natürlich. Ich begleite dich noch hinaus. Du möchtest doch gehen oder?“
„Ja. Sei bitte nicht böse, Phillippe.“
„Bin ich nicht. Ich verstehe dich sehr gut.“
„Danke.“
Er brachte sie noch zur Tür, dann sah er sie für das Wochenende nicht mehr. Auch sein nächster Besuch bei Sebastien brachte keine neuen Erkenntnisse. Napoli verhielt sich ausnahmsweise einmal annähernd ruhig.
Phillippe war sogar etwas traurig, dass er Judy, trotz der wenigen schönen Zeit, die sie verbracht hatten, die gesamte nächste Woche nicht in der Bibliothek sah.
Am Freitag kam er gegen halb acht Uhr wiederum von Sebastien zurück, als er die Überraschung sah. Judy saß vor seiner Wohnung und wartete auf ihn. Als sie ihn sah, erhob sie sich freudig, bis er bis auf Armlänge vor ihr stand. Er sah in ihr hübsches Gesicht, ihre wunderschönen braunen Augen, dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn wieder fest. Und auch er drückte ihren Körper fest an seinen. Wie gut das tat! Wieder reagierte sein Körper auf diese Berührung, dieses Gefühl…
Er erinnerte sich an ihre Berührungen von vor Tagen.
Dann löste sie sich sanft von ihm, sah ihm wieder in die Augen, dann spürte er ihren Kuss. Ihre Lippen waren unglaublich süß, er saugte sie in sich hinein.
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich von einander lösten. Judy strahlte ihn an.
Sie betraten seine Wohnung und machten es sich auf der Couch wieder bequem. Phillippe grinste, als sie aus ihrer Tasche eine Kerze herausholte, diese auf den Tisch stellt und anzündete. Er wurde beinahe an frühere, lange zurückliegende Ereignisse erinnert.
„Komm!“, forderte sie ihn auf und holte ich zu sich herunter auf die Couch.
„Du möchtest sicherlich sehr viel von mir hören.“
„Darauf kannst du einen lassen!“
Nun war sie es, die mit ihrer Hand über seine Wange fuhr.
„Aber vorher…“, sagte sie, beugte sich zu ihm und küsste ihn wieder.
Stöhnend löste er sich wieder von ihr. „Gott ist das lange her…“
„Das glaube ich dir, Phillippe. Wie lange hattest du denn schon keine Frau mehr?“
Judy spielte mit seiner Hand.
Er schüttelte den Kopf. „Richtig gehabt habe ich nur eine. Lydia. Meine erste Frau. Und mein größter Fehler. Seitdem einige Liebschaften. Aber keine Bettgeschichten. Die letzte Frau, die ich hatte, hieß Marion. Das war neunzehnhundertachtundzwanzig. Nun, manchmal, wenn ich es nicht mehr aushalten konnte, habe ich dann masturbiert. Dadurch läuft keine Frau Gefahr, so wie ich zu werden.“
„Ich verstehe nicht…“
„Das ist eine lange Geschichte, Judy.“
„Die du mir jetzt erzählen wirst! Ich meine – Phillippe – ich finde es zwar immer noch grotesk und wahnsinnig hoch drei, daß einem Menschen so etwas widerfahren kann…“
Er grinste und nickte. „Das ist es auch, Judy. Es ist grotesk und es ist auch wahnsinnig. Aber ich habe mich längst daran gewöhnt.“
„Wie lange hast du dazu gebraucht?“
Er hob kurz die Augenbrauen. „Ein paar Jahrzehnte.“
Judy grinste wieder. „Na dann… da habe ich ja noch Zeit. Aber jetzt höre ich deine Geschichte!“
Er nickte. „Wie ich dir bereits gesagt habe, bin ich am Hofe Karls des Großen aufgewachsen.“
„Bei Charlemagne.“
„Richtig. Dann, nach sechsundzwanzig Jahren, das war im Jahr achthundertzwölf, als Karl bereits Kaiser war, zwei Jahre vor seinem Tod, bin ich einmal bei der Jagd verletzt worden. Ein Eber hatte mich schwer verletzt. Aber ich – war eine Minute später wieder heil. Ich habe damals noch nicht ganz begriffen, was los war. Und wie es passiert ist – weiß ich auch bis heute nicht. Aufgrund des damaligen Weltverständnisses glaubte ich damals sogar, vom Teufel besessen zu sein.“
Judy grinste, ihre Hand glitt inzwischen unter sein Hemd und rieb seine Haut.
„Dann, knapp zweihundert Jahre später lernte ich Lydia kennen. Sie war eine einfache Diebin. Ihr Name war Lydia Vandenbourg. Sie war zugegeben sehr hübsch und wir verbrachten eine Liebesnacht mit einander. Noch während dieser Nacht wurden wir von irgendwelchen Söldnern im Bett gemeuchelt. Ich überlebte natürlich. Und Lydia – auch. Aufgrund ihrer Überraschung wurde mir bewusst, dass unser Beischlaf, wie man es damals nannte, dafür verantwortlich gewesen sein muss. Da sie schwanger wurde, blieb ich bei ihr. Sie bekam einen Sohn. Raul. Er hätte ein großartiger Junge werden können, doch seine Mutter konnte mit ihrer neuen Fähigkeit nicht verantwortungsvoll umgehen und nutzte es auf immer gnadenlosere Weise aus. Nachdem sie die ersten unschuldigen Menschen kaltblütig ermordet hatte, kam es zum Streit zwischen uns. Wir kämpften die ganze Nacht lang, aber natürlich starb keiner von uns. So ließ ich Raul bei ihr und ging meiner Wege. Im Laufe der Jahrhunderte hörte ich ab und zu von ihr, manchmal ließ sie mich sogar beschatten, aber irgendwann hatte sie wohl auch dazu keine Lust mehr. Raul dürfte inzwischen natürlich erwachsen sein, aber ich weiß, dass er so ist wie sie und ich.“
„Dann hast du ihn seit tausend Jahren nicht mehr gesehen?“
„Doch. Vor etwa dreihundert Jahren einmal. In Spanien. Siebzehnhundertzweiundvierzig. Damals hieß ich noch Phillippe Arouille.“
„Das tut mir so leid, Phillippe!“
„Ja, mir auch. Aber ich weiß, dass er ähnlich kaltblütig ist wie seine Mutter. Lydia ist inzwischen Lydia ‚Le Chat’ van Bourg“
Judy schlug ihre Hand vor den Mund. „Deine Ex ist Italiens Verbrecherkönigin Nummer Eins?!“
Traurig nickte Phillippe. „Ja. Deswegen sagte ich auch, dass sie der größte Fehler meines Lebens war.“
Judy beugte sich zu ihm und umarmte ihn ganz fest. „Das war nicht deine Schuld. Du hast es doch nicht gewusst.“
„Das ist lieb von dir.“
Judy lächelte ihn sanft an.
„Sag mal, soll das heißen, dass, wenn wir mit einander schlafen, würde ich so werden wie du?“
„Mit sagen wir neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit – ja.“
„Und mit Kondom?“
Phillippe zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es leider nicht. Und ich hatte jedes Mal Angst, dass ein Verkehr mit einer Frau trotz Verhütung dazu führen könnte. Also habe ich es nie ausprobiert.“
„Ich würde es so gerne“, gestand Judy nun. „Ich möchte so gern mit dir zusammen sein. Und ich würde so wahnsinnig gern alles andere machen, was auch dazu gehört.“
Sie lächelte erneut auf eine Weise, die so schön war, als würden Engel um ihn herum tanzen…
Erneut stöhnte Phillippe auf, als wieder lange versiegte Gefühlswellen durch seinen Körper gingen. Ihm wurde regelrecht heiß.
„Das möchte ich auch. Aber ich möchte nicht noch einmal die Verantwortung übernehmen müssen, einen Menschen so wie Lydia werden zu lassen.“
„Du hast Angst, ich könnte so werden wie sie?“
Er nickte kaum merklich.
„Auch. Ich habe nur Angst, dass ich damit so sehr in dein Leben eingreife, wie ich nicht das Recht habe. Nicht sterblich zu sein wie ich, dass kann auch ein Fluch sein.“
„Du bist auch nie enthauptet worden?“, sagte sie, schlug sich dann aber die Hand vor den Mund. „Mein Gott, was stelle ich für Fragen“
„Eine in meiner Beziehung völlig Normale. Judy, wenn du erst so wirst beziehungsweise bist wie ich, gibt es kein Zurück mehr. Ob wir doch sterben können, wenn wir den Kopf verlieren – möglich. Ich weiß es nicht. Zugegeben, ich habe mich im gesamten Mittelalter davor drücken können…“
Judy lachte erneut.
„Ich mache dir einen Vorschlag, Phillippe!“
„Ich höre.“
„Ich werde es mir einen Monat lang überlegen. Danach trennen wir uns entweder oder wir bleiben zusammen und… schlafen dann auch mit einander. Und bleiben bis in alle Ewigkeit zusammen. Was ich mir wunderbar vorstellen könnte. Denn du bist nicht nur das Verrückteste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist, du hast für mich eine Ausstrahlung, die ich bisher bei keinem Mann bisher bemerkt habe.“
Phillippe grinste. „Das machen die Jahrhunderte. Aber deinen Vorschlag finde ich sehr gut.“
Er beugte sich zu ihr und küsste sie.
Am nächsten Tag machten sie ihren ersten gemeinsamen Spaziergang und liefen wie frisch Verliebte durch die Straßen von Paris.
„Was ich dir noch nicht erzählt habe, Cheri – Lydia wird es merken, wenn ich eine neue Frau habe.“
„Wie das?“
„Ich weiß es nicht wirklich. Aber sie wird es merken. Und dann wird sie uns definitiv beschatten lassen. Weil sie natürlich wissen will, ob wir zusammen eine Gefahr für sie werden könnten.“
„Eine Gefahr für sie? Ich verstehe nicht?“
Judys braune Augen sahen ihn fragend an.
„Lydias Traum ist die absolute Weltherrschaft. Sie hat keinen Respekt vor den Sterblichen, sie tötet sie ohne jedes Gewissen. Sie sieht sie höchstens als Sklaven an. Und meine… oder dann unsere Aufgabe ist es, diese Schreckensherrschaft – denn eine solche würde es zweifellos werden – zu verhindern.“
„Großer Gott!“, entfuhr es Judy. „Und wann glaubst du, könnte es soweit sein?“
Phillippe atmete tief die Pariser Luft ein. „Nun, sagen wir mal, die nächsten drei Jahrhunderte wahrscheinlich noch nicht. Aber in spätestens einem Jahrtausend wird es unausweichlich.“
Judy zuckte die Schultern. „Nun, ist es denn so falsch, zu sagen – dann haben wir noch jede Menge Zeit?“
„Ich denke ja. Also dass wir noch Zeit haben. Aber wir müssen die Zeit gut nutzen.“
Judy nickte. „Macht deine Ex so was wie Kampfsport?“
„Da bin ich überfragt. Aber möglich wäre es. Kannst du?“
Judy nickte genüsslich. „Aikido.“
Bewundernd sah Phillippe sie an. „Donnerwetter!“
„Es gibt aber noch einen Punkt, über den du nicht Bescheid weißt, Cheri. Eigentlich sind es zwei Punkte. Wie es bei Machtbesessenen üblich ist, teilen sie ihre Macht nicht oder nur sehr ungern. Das heißt, Lydia wird nach wie vor nur Raul haben als einzigstes Kind. Ob dieser weitere Nachkommen hat, weiß ich ebenfalls nicht, ich konnte es nicht herausfinden.“
„Du spricht von Raul wie von einem Fremden, Honey.“
„Du hast Recht. Raul ist für mich fremd geworden. Was ich damit sagen wollte – die Sterblichen werden uns bei dem bevorstehenden Kampf nicht helfen können. Wir müssen dafür selbst sorgen.“
„Noch bin ich ebenfalls sterblich, Phillippe.“
Er nickte und drückte sie noch fest an sich. „Ich weiß jetzt, dass ich dich brauche, Judy. Sehr. Und natürlich würde unsere erste Zeit sehr, sehr glücklich werden. Und darauf denke ich, können wir aufbauen.“
Judy lächelte jetzt wieder. „Das hört sich doch für das Erste sehr gut an, Honey. Aber was ist mit dem zweiten Punkt, von dem du sprachst?“
Richtig, der andere Punkt, dachte Phillippe.
„Der zweite Punkt - wie es dazu kommt, weiß ich nicht. Vielleicht ebenfalls aufgrund dieses von mir vermuteten Gen-Defekts. Im Laufe der Jahrhunderte, Judy, und auch der Jahrzehnte, ist meine Kraft gewachsen. Und zwar ungefähr auf das Fünffache. Ich könnte dich also locker auf meine Arme nehmen und den ganzen Tag lang durch Paris tragen.“
„Wow!“, entfuhr es ihr. „Ist ja irre. Ist das der Grund, warum du sagst, dass bei dem Kampf dann Sterbliche nicht viel werden ausrichten können?“
Phillippe nickte. „So ist es. Wenn Lydia einem Sterblichen einen Kinnhaken verpasst, wird dieser durch den ganzen Raum geschleudert mit daraus folgenden schwersten Verletzungen. Umgekehrt wäre es nur, dass man sie kurz tätschelt. Das ist alles.“
„Grundgütiger. Das ist dann mehr als nur eine Laune der Natur. Lydia ‚Le Chat’ van Bourg. Le Chat. Die Katze.”
Plötzlich irrten Judys Augen umher. “Einen Moment Mal – einer Katze sagt man doch auch nach, dass sie sieben Leben habe! Und man nennt Lydia deswegen so, weil sie offenbar nach jeder Schießerei wieder aufsteht! Weil sie genauso wie du nicht sterblich ist! Das ist der Grund!!“
Traurig nickte er. „So ist es.“
Dann spürte er Judys fest entschlossenen Blick.
„Dann müssenwir sie aufhalten. Sonst führt sie die Menschheit in die Katastrophe!“
„Das ist richtig, Cheri.“
Die nächsten Tage verliefen ereignislos, am darauf folgenden Samstag saßen Phillippe und Judy beim Dame-Spiel zusammen. Beide barfuss. Als er nach fünf Partien alle gewonnen hatte, ließ er Judy auch einmal gewinnen.
„Das ist lieb von dir, Honey, aber nicht nötig.“, merkte sie an. „Ich möchte nicht, dass du mich wegen deiner großen Erfahrung bevorzugst.“
„Ok.“, grinste Phillippe und freute sich. Judys Einstellung gefiel ihm in dieser Hinsicht sehr.
Da hörte er Sebastiens Stimme.
„Phillippe? Kannst du mich hören? Bist du da?“
Es war sein Laptop. Phillippe erhob sich vom Boden und lief zum Tisch und holte den Laptop zu sich heran.
„Ja, ich bin da, Sebastien. Was gibt es?“
Judy folgte ihm und setzte sich hinter ihn.
„Ich - es gibt etwas Neues. Vor…“
„Ach so – entschuldige, Sebastien.“
Phillippe drehte sich halb um und warf Judy einen Blick zu.
„Judy – das ist Sebastien. Sebastien LeMónt.“
Er drehte sich wieder zurück. „Sebastien – das ist Judy Broker.“
„Hallo Sebastien“, grüsste Judy hinter ihm seinen Freund.
„Hallo Judy.“
Selbst über die Videoleitung sah Phillippe, dass sein Freund durchaus überrascht war. Weil er, Phillippe, seit langem wieder eine Frau bei sich hatte und diese auch ausgesprochen attraktiv war.
„Du kannst frei reden, Sebastien. Ich habe sie eingeweiht.“
Daraufhin grinste sein Freund. „Sehr schön, Phillippe. Ich freue mich sehr für dich!“
„Ach so – richtig. Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst. Es ist vor zwei Stunden aufgetaucht. Ein Video. Aus Napoli.“
Das, war Phillippe in den nächsten fünf Minuten sah, ließ ihm die Haare zu Berge steigen. Er sah Ausschnitte von einer Art Arenakämpfen. Menschen, die mit Messern gegeneinander kämpften. Es schien sogar mehrere Runden zu geben. Zuerst sahen sie zwei Männer gegen einander kämpfen, zum Schluss waren es acht, in je zwei Gruppen. Der Verlierer verlor sein Leben.
Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass Judy leichenblass war. Sogar Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Kämpfe wie im alten Rom“, sagte Phillippe leise.
„Es sieht so aus.“, stimmte ihm sein Freund zu.
Phillippe spürte, wie Judy ihre Arme um ihn schlang und ihr Gesicht in seinen Nacken drückte.
„Ich finde, das riecht doch stark nach Lydia.“, sagte Sebastien.
Phillippe musste ihm Recht geben. „Wissen wir genaueres?“
Sebastien wiegte seinen Kopf.
„Also wenn ich die Informationen richtig deute, dann handelt es sich bei den Kämpfern um Schwer- und Schwerstverbrecher. Mörder, Vergewaltiger, Serienkiller, was du dir vorstellen kannst. Lydia ist wohl zu Ohren gekommen, dass sämtliche Gefängnisse Italiens überfüllt sind. Und dem Sieger winkt Ruhm. Und sie holt sich Einschaltquoten und macht erneut Kohle.“
„Aber wer schaut sich denn so einen Wahnsinn an?“, rief Judy empört und unter Tränen.
„Ich stimme Ihnen zu, Judy“, sagte Sebastien. „Aber ich fürchte, es gibt genügend zahlende Kreise in Europa.“
Phillippe nickte ernüchtert. „Er hat Recht, Cheri. Es gibt genügend Leute, die für so etwas zahlen.“
„Danke, Sebastien.“
Sein Freund und Mitarbeiter nickte ihm zu.
Schweigend saßen er und Judy einige Minuten beisammen.
„Woher kennst du ihn?“, fragte sie leise.
„Ach er hat einfach nur Arbeit gesucht. Vor drei Jahren. Und da ich dringend eine derartige Unterstützung gebraucht habe und es mir auch leisten kann, habe ich ihn genommen. Er ist ein Internetprofi.“
„Und seit wann kennt er dein Geheimnis?“, fragte sie und strich sanft durch sein Haar.
„Fast genauso lange.“
Er drehte sich zu ihr und sah in ihre braunen Augen.
„Aber ich glaube kaum, dass dein Einkommen als Bibliothekar ausreicht, um einen Internetexperten zu beschäftigen. Oder hast du in den letzen Jahrhunderten genug Gold beiseite gelegt?“
Phillippe nickte. „Genauso ist es.“
„Wie viel hast du?“, horchte Judy neugierig. „Nicht dass ich scharf darauf wäre…“
„Das weiß ich. Es sind schon ein paar Millionen.“
Sie schien aber doch etwas überrascht. „Wow. Was sind bei dir ein paar?“
„Im Moment ungefähr einhundertdreizehn. Das meiste davon ist gut angelegt.“
Jetzt klappte doch ihr Unterkiefer herunter. „Dann bist du Multimillionär.“
„Ja.“
Sie legte ihren Kopf wieder an seine Schulter.
„Phillippe, ich habe eine Entscheidung getroffen.“
Er lehnte seinen Körper etwas nach hinten und sah in ihr liebliches Gesicht.
„Also erstens: Ich weiß, dass ich sehr in dich verliebt bin. Und das, obwohl ich gerade erst eine Beziehung hinter mir habe.“
Phillippe lächelte und fuhr ihr sanft über die Wange.
„Zweitens: Ich bin mir sicher, dass ich mein Leben mit dir verbringen will. Nun hat das natürlich durch dich eine ganz andere Bedeutung.“
Er nickte. „Richtig.“
„Und da ich mir dir um nahezu jeden Preis zusammen sein will, heißt das auch, dass ich auch mit dir schlafen will. Und ob ich nun erst in zwei oder drei Wochen mit dir schlafe oder heute - meine Sterblichkeit verliere ich durch dich so oder so. Es macht, da der zweite Punkt für mich fest steht, keinen Unterschied. Der nächste Punkt ist der, dass ich als Frau auch weiß, wie die meisten Frauen denken. Und wenn eine Frau zu so etwas wie dem hier fähig ist – Phillippe, ich bin mir nicht einmal sicher, ob selbst du ahnst, worauf die Menschheit mit Lydia hinsteuert. Die Menschheit hat mit Glück und Willen Leute wie Napoleon oder Hitler überlebt und das, was aus deiner Ex zu werden scheint – könnte sogar alles bisher Bekannte übertreffen.“
Bei ihren letzten Sätzen war selbst in Phillippes Gesicht purer Ernst gestiegen.
„Du bist bisher der wahrscheinlich einzige, der sie aufhalten kann. Aber allein schaffst du das nicht, Honey. Du brauchst mich.“
Er nickte und lächelte wieder. „Ja, ich brauche dich. Sehr sogar!“
Sie beugte ihr Gesicht wieder leicht zur Seite und küsste ihn. Ein Kuss, der rasch ins Leidenschaftliche ging. Und erneut längst vergessene heiße Wellen durch seinen Körper jagen ließ.
Dann löste sie sich sanft von ihm und trat von der Couch auf den Boden. Und nun bekam Phillippe die schönste und erotischste Show seines Lebens geboten.
Judy räkelte ihren gazellenartigen Körper und streifte ganz langsam ihre Bluse und ihren BH ab. Phillippe wurde derart heiß, dass er den obersten Knopf seines Hemdes löste.
„Gott bist du schön!“
Judy lächelte erfreut und knöpfte und streifte sich nun auch ihre Jeans ab. Dann fiel zum Schluss auch ihr Slip. Nun stand sie in ihrer nahezu makellosen Schönheit vor ihm.
Und nun zum ersten Mal seit Jahren zog es gewaltig in seinen Lenden. Phillippe stöhnte und hielt sich die Genitalien. Entweder war es in der Tat zu lange her oder er hatte ganz einfach noch nie so intensiv dieses Gefühl gehabt. Es wurde fast übermächtig. Judy räkelte sich vor ihm in ihrer prallen Schönheit und wartete, bis er sich ebenfalls ausgezogen hatte.
Phillippe merkte, wie sein Penis heftig arbeitete. Judy kam auf ihn zu, bis ihre Brust die seine berührte. Nun berührten sich ihre Lippen wieder, mal sinnlich, mal leidenschaftlich, mal sehr heftig. Er hob sie schließlich an ihren Beinen etwas hoch und trug sie an den anderen Rand der Couch, setzte ihren Po ab. Er versenkte Lippen und Zunge nacheinander an ihre Brüste, was Judy wieder aufstöhnen ließ. Ihm war inzwischen so warm, dass er ihre Hitze kaum wahrnahm. Dann fanden seine Lippen zurück zu ihren und anschließend liebkoste er ihr Hauptlustzentrum. Er spürte, wie sie sich unter ihm wand, und dann, da ihm sehr daran gelegen war, machte er weiter, bis er ihren Höhepunkt fühlte. Judy stöhnte auf und sah ihn keck an.
Dann stellte er sich ganz vor sie und rutschte schnell in sie hinein. Und nun merkte er einerseits, wie ausgehungert er war, auf der anderen Seite spürte er trotzdem, wie sehr sie ihn forderte. Seine Lust stieg weiter, jedoch relativ langsam. So dauerte es ganze vierzig Minuten, bis er sich ebenfalls unter großem Stöhnen und einer gewaltigen Befriedigung entlud.
Für den Rest des Abends lagen sie aneinander gekuschelt im Bett, sahen fern und unterhielten sich leise.
Am nächsten Morgen erwarteten beide Überraschungen. Phillippe hatte schlecht geträumt – und zwar von Lydia. Und Lydia hatte Judy bedroht. Als Phillippe wieder erwachte, wusste er jedoch, was der Traum zu bedeuten hatte. Lydia wusste über Judy Bescheid.
„Wie soll sie denn über mich Bescheid wissen?“, horchte Judy.
„Ich weiß es nicht, Cheri. Vielleicht haben wir eine Art passiven telepathischen Kontakt. Als wir uns gestern geliebt haben, sind meine Gefühle auf ein hohes Niveau gestiegen. Das wird sie gespürt haben.“
„Also ich kann gut darauf verzichten, mit ihr in Kontakt zu stehen. Apropos – bin ich jetzt so wie du?“
Beide sahen sich sekundenlang überlegend an.
„Zumindest, Honey, werde ich mir kein Messer in den Bauch stoßen.“
Trotzdem lief sie in die Küche und ritzte sich leicht in die Hand. Phillippe trat hinter sie und sah sich nun endlich bestätigt – die kleine Wunde heilte auch bei ihr nun übernatürlich schnell aus.
Judy drehte sich ihm um, sah ihm zärtlich in die Augen und umarmte ihn wieder.
Phillippe liefen indes Tränen aus den Augen. Er hatte – nach fast eintausend Jahren wieder eine Frau! Eine, die er liebte und die ihn liebte!
„Gehen wir duschen?“, horchte sie keck.
„Natürlich“, erwiderte er erfreut.
Die nächsten Tage und Wochen schienen nach langer Zeit wieder sehr glücklich zu werden. Der Frühling ging vorbei und der Sommer begann. Judy war endgültig zu Phillippe gezogen und in der ersten Juniwoche teilte sie Phillippe einen veränderten Zustand mit.
Er sah sie doch etwas verblüfft an, dann wirbelte er sie herum.
„Wie lange weißt du es?“
„Seit gestern, mein Honey!“
Phillippe zog Judy zu sich und sie küssten sich innig.
„Was sind das eigentlich für Internetarbeiten, die du so oft machst?“, horchte sie neugierig.
„Ich versuche herauszufinden, wie weit Lydias Linie inzwischen ist. Es geht aber nur sehr schwer beziehungsweise sehr langsam. So gut im hacken bin ich noch nicht.“
„Ich könnte meine beste Freundin fragen, die extrem gut ist. Sie macht ebenso wie ich Aikido. Vielleicht kann sie dir helfen. Ich meine natürlich – uns helfen.“
Judy setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn.
„Cheri, ich habe beschlossen, dir im Laufe der nächsten Jahre einige Sachen beizubringen.“
Ihre braunen Augen sahen in neugierig an.
„Was für Sachen, Phillippe?“
„Was glaubst du, mein Herz, wie viele Berufe ich in den letzten eintausendzweihundert Jahren erlernt habe?“
Judys Augen wurden groß. „Ich vermute, eine ganze Menge.“
Phillippe nickte. „Wenn ich alles zusammen zähle, komme ich bestimmt so an die zwanzig.“
„Wow!“, entfuhr es ihr.
Er fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Augen. „Ja, inklusive das Knacken von Schlössern. Das kann ich immer noch.“
Judy lachte. „Na toll.“
Dann sah sie ihn fragend an. „Du warst bestimmt Schmied.“
„Aber sicher. Mit insgesamt einhundertvierundzwanzig Jahren ist das sogar mein am längsten ausgeübter Beruf.“, bestätigte er ihr.
„Bauer?“
„Auch“, nickte er. „Dann folgen Schneider, Kaufmann, Tischler, später auch Anwalt, Bergmann, Kürschner. Und so weiter.“
Judy grinste. „Das ist absolut irre!“
„Ich war sogar Lehrer.“
„Für welches Fach?“
„Mathematik. Beziehungsweise Algebra. Im achtzehnten Jahrhundert über zwanzig Jahre lang. Bis ich dann wieder gegangen bin.“
Judy legte ihre Arme um seinen Hals.
„Warum bist du gegangen?“
„Irgendwann merken die Leute, die man kennen lernt, dass man nicht altert und sie fangen erst an sich zu wundern, dann unterstellen sie einem sogar, man sei mit dem Teufel im Bunde.“
Judy nickte.
„Ach richtig. Der Teufelsglauben. Der sogar bis ins zwanzigste Jahrhundert hielt.“
Phillippe sah sie mit einem Schmunzeln an.
„Nun und ich sehe jeden Tag, dass es Gott gibt.“
Es brauchte einen Moment, bis Judy begriff. Dann schenkte sie ihm ein Lächeln und küsste ihn.
„Ich liebe dich, Phillippe.“
„Ich liebe dich auch, Judy. Du bist nach eintausendzweihundert Jahren die erste Frau, die ich wirklich richtig liebe.“
„Das ist ein sehr schönes Kompliment! Danke, Honey!“
„Willst du lernen, wie man Schlösser knackt, Cheri?“, horchte er.
„Bedenke, dass das auch ein Beruf ist. Nicht alles ist illegal, nur wenn es sich so anhört.“
Judy grinste immer noch verlegen.
„Also gut. Wir können es ja mal versuchen. Wie?“
Phillippe nickte. „Dazu fahren wir gleich zu Sebastien. Bei ihm finden wir alles.“
Bei seinem Freund und Mitarbeiter angekommen – Judy und Sebastien kannten sich inzwischen soweit – gab Phillippe ihr erst einmal einfaches Schloss.
„Hier, das ist ein Buntbartschloss. Das kriegt man mit einem einfachen Dietrich auf.“
Judy grinste wieder verlegen, setze sich und versuchte sich. Nach bereits dreißig Sekunden klappte das Schloss auf und sie grinste ihn stolz an.
„Das ist gut!“, lobte Phillippe und Sebastien schloss sich seinem Urteil an.
„Wenn du es auf unter fünf Sekunden bringst, Cheri, kannst du das Nächsthöhere nehmen.“
„Und was ist das Nächsthöhere?“, wollte sie wissen.
„Ein Chubbschloß“, sagte Sebastien für ihn.
„Langsam, Sebastien. Langsam. Judy soll sich erst einmal an das Einfachste gewöhnen.“
Judy sah Phillippe auffordend an. „Und du machst das Schwierigste, das du kannst, Honey!“
„Zeig ihr das Vexierschloss, Phillippe.“
„Ist das das Schwierigste?“
„Nein, Judy, die Schwierigsten sind Knock-Code-Schlösser. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Lydia die kann.“
Phillippe nickte. „Ich denke doch. Aber – ok.“
Er nahm sich nun ein solches Trickschlossmodell und brachte es in zwölf Sekunden auf.
Am nächsten Tag kam nun Judys Freundin vorbei. Sie hatte im Aikido den höchsten Schülergrad, Judy den Zweithöchsten. Sophie – so wurde sie Phillippe vorgestellt – hörte sich seine Bitte an und versprach ihm, einige Dinge zu zeigen.
Nach zwei Stunden war Sophie doch überrascht, wie schnell Phillippe lernte.
„Das erlebt man nicht sehr oft. Ich habe noch nie erlebt, wie jemand das, was ihm gezeigt wurde, so schnell umgesetzt hat. Das sieht man denke ich nur bei Hochbegabten.“
„Weißt du, Sophie“, erwiderte Judy, ehe Phillippe antworten konnte, „mein Honey ist auf eine gewisse Art und Weise hochbegabt.“
Sie streichelte Phillippe sanft über die Wange.
„Und Judy ist es in gewissem Sinne jetzt schon. Du solltest sie erst einmal in naher Zukunft erleben.“
Judy grinste sich nun einen ab, da nur sie ahnte, was Phillippe mit ‚naher’ Zukunft meinte. Bei so einer Lebensrelation, die nun auch sie hatte, konnten das fünfzig Jahre bedeuten.
Sie aßen noch zu dritt Mittag, dann gingen sie zum ersten Mal gemeinsam in ein Museum für das Mittelalter, da Phillippe Judy jenen Teil der Vergangenheit näher bringen wollte.
Zuerst besuchten sie das Frühmittelalter, Phillips ‚gefühlte’ Heimat.
„Es soll ja sogar einige Verschwörungstheorien geben, dass Karl der Große nie gelebt hat.“, meinte Phillippe leise.
Judy nickte. „Richtig. Aber du bist der einzige lebende Zeitzeuge.“
Phillippe deutete stumm mit dem Finger an den Mund, aber Judy grinste nur.
„Ach komm, Honey, selbst wenn jemand unsere Gespräche hört, wird er es eh für Unsinn abtun.“
Phillippe deutete nun auf einen Tisch, auf dem eine Burg nachgebaut war. Er erkannte sie sofort.
„Das ist Orleans.“
Seine Augen schlossen sich und Bilder vergangener Zeiten huschten für wenige Momente vor sein geistiges Auge.
Er öffnete die Augen wieder und musterte die mittelalterliche Festung.
„Wobei ich glaube, dass dieser Teil der Wehranlage schon ins Hochmittelalter gehört.“
Phillippe deutete, soweit es ging, auf einen ‚Mauerstreifen’ zwischen zwei Türmen.
„Sag mal Honey, hättest du da bei deinen Möglichkeiten nicht auch irgendwie Baron, Graf oder Herzog werden können?“
Phillippe nickte. „War ich auch.“
„Du warst adelig?“, horchte Judy neugierig.“
„Ja. Ich war von fünfzehnhundertachtundachtzig bis – lass mich überlegen – sechzehnhundertvierundfünfzig Phillippe Duc de Camarque.“
„Und wieso dann nicht mehr?“, wollte sie weiter wissen, während sie zusammen weiter langsam durch die Museumsräume liefen.
„Das hatte wieder mal mit Lydia zu tun. Ich hatte zuviel Aufsehen erregt und Lydia erpresste mich. Also verschwand ich. Es war das Beste.“
„Da haben wir wieder was gemeinsam, Honey. Meinen Ex hätte ich nie dazu überreden können, in so ein Museum zu gehen. Ich bin so froh, dass wir uns begegnet sind.“
Judy schaute kurz, ob sie kurz allein waren, dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn sanft.
„Das bin ich auch, Cheri. Sehr.“
Weiter ging es zu einem Tisch, in den ein mittelalterliches Dorf in Miniaturform nachgebaut war.
„Das müssen wohlhabende Leute gewesen sein, die sich solche Häuser leisten konnten.“, erklärte er. „Fürs Mittelalter ist diese Art von Putz sehr teuer.“
„Es können reiche Bauern gewesen sein.“, mutmaßte Judy.
Phillippes Augen strichen über die Anzahl von etwa fünfzehn Häusern, die insgesamt vielleicht jeweils zwei Meter fünfzig groß waren. Das Miniaturdorf hatte auch eine kleine Kapelle.
„Ja, da könntest du Recht haben.“
Jetzt erst sah er, dass neben einigen Häusern auch Pferde hineingesetzt worden waren.
„Bauern, die sich Pferde leisten konnten, waren zumindest wohlhabend.“, sagte er.
„Komm, gehen wir weiter.“
Am darauf folgenden Montag kam Judy aufgebracht zu Phillippe in die Bibliothek. Er merkte schnell, dass einige der anderen seiner Freundin bewundernde Blicke zuwarfen.
„Ich hatte gerade eine kleine… nennen wir es mal Auseinandersetzung… mit Jason.“
Phillippe klappte leicht der Kiefer herunter. „Was ist passiert?“
Judy grinste.
„Rein zufällig scheint ihn seine letzte Freundin, also die, wegen der er mich damals betrogen hatte, verlassen zu haben.“
„Welch ein Wunder.“, meinte Phillippe.
„Ja, so ähnlich habe ich auch argumentiert, als er mir sagte, dass er mich wieder haben will.“
Phillippe sah seine Freundin nachdenklich an, wurde aber gleich beruhigt.
„Honey – keine Sorge. Ich liebe dich und du bist das Beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist.“, versicherte ihm Judy und streichelte seine Hand.
Phillippe grinste. Er war tatsächlich beruhigt.
„Und weiter?“
„Mal abgesehen davon, dass er mich auch damals immer nur mit ‚Baby’ oder so ähnlich angesprochen hat, fing er dann sogar an, Beschimpfungen in deine Richtung loszuwerden.“
Als junger Spund wäre Phillippe jetzt vielleicht aufgestanden und hätte Jason zur Rede stellen wollen, doch diese Tage lagen in grauer Vorzeit.
„Ich habe ihm dann ein paar deutliche Worte gesagt, dass er das unterlassen soll. Ich habe ihm gesagt, er wäre Lichtjahre von dir entfernt. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Das hat ihn dann soweit aufgebracht, dass er sogar handgreiflich wurde. Nach einer letzten Warnung von mir lag er dann zur Belustigung aller anderer schnell auf dem Boden. Er hatte wohl vergessen, dass ich Aikido mache.“
Phillippe lachte kurz.
„Als er wieder aufstand, hat er dann sogar noch mich beleidigt, dann hab ich ihm noch gesagt, er würde mir leid tun und das war es.“
Phillippe grinste seine Freundin bewundernd an.
„Cheri, ich habe eine Idee.“
Judy sah ihn mit ihrem üblichen Lächeln – wie jedes Mal wenn sie ihn ansah – an und nickte dann.
„Ich kann’s mir denken, Honey.“
Phillippe sah sie neugierig an.
„Du willst Aikido lernen?“
„Stimmt.“
Dann flüsterte sie: „Du hast in eintausendzweihundert Jahren keinen Kampfsport gelernt?“
Phillippe lehnte sich amüsiert zurück. „Doch. Vor etwa einhundert Jahren etwas Karate und Judo. Aber nur ein paar Jahre. Es hat mich irgendwie nicht so recht begeistern können.“
Judy lächelte ihn nun an mit der ganzen Sonne, die ihr Antlitz und ihr Charme ausmachten, an. Oh Gott – wie traumhaft schön das war!
„Dann lass es uns gemeinsam lernen, Honey. Wir haben genug Zeit, um es bis zum Meister zu schaffen.“
Wieder einmal ließ er seine Hand über ihre Wange streichen.
„Aber liebend gern, Mylady!“
So schön die Woche war, so kalt begann das Wochenende. Aber nicht das Wetter hatte abgekühlt, sondern der unerwartete Besuch, den sie erhielten.
Kaum hatten sich Phillippe und Judy sich angezogen, als es an der Tür klingelte.
Wie üblich aktivierte er das Sichtfeld, als ihm der Schreck durch den ganzen Körper fuhr. Jedoch ließ er sich nichts anmerken, als er seiner ersten Frau die Tür öffnete.
„Wer ist da, Honey?“, hörte er Judys Stimme, dann spürte er seine Freundin hinter sich.
„Hallo Phillippe“
„Hallo Lydia“, sagte er und bemühte sich, dabei gelangweilt zu klingen.
Lydia van Bourg drehte den Kopf ein paar Grad.
„Raul – sag deinem Vater hallo.“
Dann wartete sie sein ‚herein’ doch nicht ab, sondern lief an ihm und der blass gewordenen Judy vorbei, die sie natürlich abschätzend ansah.
Ein junger Mann lief ihr hinterher – Phillippes Sohn, der sich genauso wie seine Mutter in den letzten eintausend Jahren nicht verändert hatte. Bis auf den Modestil. Lydia war zugegebenermaßen sehr modisch in einen Frauenanzug gekleidet, Raul in das modische Herrenpendant. Doch Phillippe spürte die Kälte, die beide ausstrahlten. Raul genauso wie seine Mutter.
Judy sah ihn entsetzt an, Phillippe konnte sehen, dass seine Freundin schockiert über den unterwarteten Besuch war.
Er ging zu ihr und küsste sie sanft auf die Stirn, was Judy zu beruhigen schien. Lydia entging es natürlich nicht.
„Hab keine Angst“, flüsterte er. „Alles wird gut.“
„Ok“, flüsterte sie zurück.
„Was führt dich hierher, Lydia?“
„Kannst du dir das nicht denken, Phillippe?“
„Du solltest wissen, dass ich durch eure gemeinsamen Nächte von deiner Neuen weiß.“
„Ja, ich weiß. Und du kommst den ganzen Weg von Napoli hierher?“
Lydia zuckte die Schultern. „Per Flug dauert es nur eine Stunde. Ja, ich bin hier, weil ich zugegeben neugierig bin auf deinen Neuerwerb.“
Sie erhob sich wieder und umschritt Judy einmal.
„Ich muss dir gratulieren, dein Geschmack ist gleich geblieben. Nein, er ist nicht gleich geblieben, er ist besser geworden.“
„Phillippe – ich bin eifersüchtig!“
Phillippe verschränkte seine Arme.
„Eifersüchtig? Du hast dich seit eintausend Jahren nicht mehr blicken lassen und bist... eifersüchtig.“
Da er nicht nur Lydia, sondern auch seinen Sohn ansah, merkte er, dass dieser die ganze Zeit auf Judy starrte.
„Ich weiß – ich weiß, ich hätte mich mal melden sollen.“
„Ich wundere mich nicht, dass du bei deinen ganzen Aktivitäten nie die Zeit dazu gefunden hast. Mal hier ein paar Leichen, mal da ein paar Leichen, nicht wahr, Lydia?“
Diese lachte kalt auf.
„Ach Phillippe – du nimmst immer noch Rücksicht auf die Sterblichen? Was für eine Zeitverschwendung!“
„Tja, Lydia“, sagte Judy plötzlich, „Sie könnten auch mal ein neues Make-Up vertragen“
Lydias Kopf ruckte wieder zu Judy und Phillippe sah in den Augen seiner Ex-Frau etwas, das ihn trotz seiner eintausendjährigen Erfahrung frösteln ließ. Er sah in die tiefsten Abgründe, in die er jemals gesehen hatte. Und er sah sich in seinen schlimmsten Erwartungen bestätigt, wenn nicht sogar übertroffen. Er hatte bisher angenommen, dass selbst in den bösesten Menschen noch ein Funken Menschlichkeit vorhanden war. Aber bei Lydia sah er nichts mehr. Nicht das Geringste.
„Sie sollten wissen, meine Teure, wären Sie sterblich, hätte ich Sie für diesen Affront auf der Stelle getötet. Aber natürlich weiß ich, dass Sie inzwischen einer von uns sind.“
Phillippe merkte, dass es in Judy gewaltig arbeitete und diese Mühe hatte, die Selbstbeherrschung zu wahren.
„Ich könnte sie probieren, Mutter.“, sagte plötzlich Raul.
Phillippe war sich nicht sicher, was sein Sohn damit meinte. Aber es hört sich nicht gut an. Er machte einen Schritt zu Judy.
„Sieh nur, Raul, wie er sie beschützt.“
Dann sah Judy ihn lächelnd an.
„Lass nur, Honey, mit dem werde ich locker fertig.“
„Mit mir?“, fragte Raul. Und lachte.
„Cheri – er ist wesentlich stärker als du!“
„Vertrau mir, Honey.“
Mit bangem Herzen sah er, wie sein Sohn auf Judy zuging. Und sie am Kopf packte. Dann passierte etwas, mit dem er nie gerechnet hätte. Raul wurde durch die Luft gewirbelt und landete mit dem Rücken kurz vor der Couch. Nicht nur Phillippe, sondern auch Lydia sah Judy fassungslos an.
Und für einen Moment glaubte er bei Raul das Fluktuieren irgendeiner seltsamen Welle zu erkennen. Mit Mühe erhob dieser sich und war genauso schockiert. Große Erleichterung machte sich in Phillippe breit. Und auch Lydia erschien noch entsetzt genug, um erst einmal sprachlos zu sein. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da eben gesehen hatte. Raul schien mit verzerrtem Gesicht plötzlich an seinen Gürtel zu greifen, fand aber wohl nichts.
„Du Hure…!!“, rief er.
Lydia fing sich aber wieder. Und lief auf Phillippe zu, bis sie ihn fast berühren konnte.
„Tut mir leid, dass ich keinen Kaffee anbieten kann.“
„Ich trinke Wein.“
Sie verlor kein Wort mehr zu ihm, sondern ging in Richtung Ausgang. „Raul!“
Ohne seinen Sohn anzusehen, wartete er noch, bis dieser und seine Mutter gegangen waren.
Wie mechanisch machte Phillippe die Tür zu und kehrte zu einer inzwischen wieder lächelnden, aber auch weinenden Judy zurück.
Sie fielen sich in die Arme und er fühlte, wie mehr und mehr Tränen aus seiner Freundin heraus brachen. Aus ihm auch. Er war zwar in mehrfacher Hinsicht verwirrt, aber das Positive, das sich aus diesen Ereignissen ziehen ließ, war groß.
Er holte sich ihr nasses Gesicht vor seins.
„In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so stolz gewesen auf jemanden.“
Judy nickte und küsste ihn lächelnd.
„Wie fühlst du dich?“
„Wieder besser, Honey.“
„Hattest du Mühe für diesen Wurf, Cheri?“
Judy überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.
„Nein, überhaupt nicht.“
Phillippe schlug die Hände vors Gesicht und lief im Wohnzimmer umher, Judy hatte sich gesetzt.
„Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Eiseskälte bei zwei Menschen gespürt!“, sagte sie.
„Da muss ich dir leider Recht geben. Aus Lydia ist das blanke Böse geworden. In dieser Form hatte nicht einmal ich damit gerechnet.“
Judy sah ihn erst an.
„Glaubst du mir nun, dass sie die größte lebende Gefahr für die Menschheit ist?“
Phillippe setzte sich neben sie.
„Gewusst habe ich es immer, Cheri, aber in dieser Heftigkeit…“
Judy küsste ihn mehrere Male.
„Und ich kann nur noch einmal wiederholen, dass ich wahnsinnig stolz auf dich bin, Cheri.“
„Lerne erst einmal Aikido, Liebe meines Lebens.“
Wieder schloss er sie fest in seine Arme.
„Da werden sich neue Dinge für dich erschließen.“
Sie sah in den Raum. „Hast du zufällig Weihrauch oder etwas Vergleichbares? Ich finde wir sollten den Raum reinigen.“
Phillippe sah seine Freundin an – und zusammen brachen sie in Lachen aus und küssten sich noch einmal.
Und da Phillippe als früherer Christ tatsächlich Weihrauch in seiner Wohnung hatte, zündeten sie erst einmal einige Hölzer an und ließen sie wirken.
„Und wir beide, Honey, nehmen jetzt ein Bad.“
Gesagt, getan. So genossen beide das warme Wasser, ihre gegenseitige Nähe und auch ihre Liebe. Nach einer Weile rutschte Judy sogar unter ihn und nahm Phillippes Männlichkeit in sich auf. Im Wasser begann er sich heftig zu bewegen, so dass nicht wenig Wasser überschwappte. Aber das war ihnen egal. Ihre beiden Körper bogen sich durch und nach Minuten der Vereinigung und schneller werdenden Stöhnens erreichten beide die Erfüllung.
In den nächsten Tagen ging Phillippe das Geschehene immer wieder durch den Kopf. Er wusste inzwischen zwar, dass Judy mit ihrer Anmerkung, Aikido könne in einem Kampf Wunder bewirken durch eintretende Gesetze der Physik, aber sein Instinkt, der sich im Laufe der Jahrhunderte messerscharf herausgebildet hatte, sagte ihm, dass noch etwas Anderes im Spiel war. Aber was? Er ließ die Situation noch einmal vor seinem geistigen Auge abspielen. Wieder und wieder sah er Judys Handbewegung, wodurch Raul einen Meter durch die Luft geflogen war. Genau dieser Punkt…Raul hatte seine Freundin am Kopf gepackt…ein Griff, der sich bei Rauls Kraft fast wie Stahlklammern anfühlen musste. Doch Judy hatte ihn abgewehrt und zwar ohne größere Probleme.
Wunderbare, warme Lippen drückten sich auf seine Hals. Er öffnete die Augen und sah Judy in seinen Schoß plumpsen.
„Du bist ja ganz in Gedanken“, sagte sie nach einem Kuss.
„Ich versuche, die Ereignisse einzuordnen.“
„Ich habe übermorgen Prüfung, Honey.“
„Was für eine?“
„Aikido. Ich trete an für den höchsten Schülergrad. Den ersten Kyu.“
Phillippe grinste. „Ich weiß, dass du das schaffst. So wie du Raul verprügelt hast… er ist schließlich einer der gefährlichsten Menschen der Welt.“
Judy schüttelte den Kopf. „Honey, lass uns nicht mehr davon reden. Aber Recht hast du trotzdem.“
Sie grinsten sich an.
„Trägst du da eigentlich irgend so einen Anzug?“
„Ja, Honey, den Hakama.“
„Ach dieses schwarze Ding, das du immer mitnimmst?“
„Richtig.“, nickte sie. „Und nächste Woche kommst du mit?“
„Ja. Dann kannst du mich ja trainieren.“
Judy schüttelte wieder den Kopf. „Das darf nur ein Ausbilder. Aber wenn ich einmal einer bin, trainiere ich dich, ja. Dann nehme ich dich von morgens bis abends ran.“
Sie lächelte und ihre Lippen berührten seinen Mund.
„Und wenn ich dann den ersten Kyu habe, kann ich auch Vorbereitungslehrgänge zum Ausbilder machen. Das wird aufregend!“
Phillippe grinste. Seine Freundin war erst seit kurzer Zeit nicht sterblich wie er, schien es aber schon akzeptiert zu haben.
„Ich weiß, was du sagen willst. Aber du hilfst mir bei der Akzeptanz des Ganzen wesentlich mehr als du ahnst, Honey.“
„Kannst du Gedanken lesen, Cheri?“, horchte er.
Judy wiegte ihr blondes Haupt. „Kommt mir in der Tat manchmal so vor.“
Am Abend, als wie wieder einmal bei Sebastien waren, erfuhren sie die nächste schlechte Nachricht aus Napoli.
„Die Leichen von drei jungen Frauen sind gefunden worden.“, sagte Phillippes Freund leise. „Klare Anzeichen von Vergewaltigung, sie wurden stranguliert und außerdem mit unzähligen Messerstichen verletzt. Die Autopsie sagt, dass die Strangulierung vorher stattfand.“
Phillippe schloss seine Augen. „Das war Raul. Das ist seine Handschrift. Allerdings stimmt die Reihenfolge nicht. Hätte er sie zuerst vergewaltigt, hätten sie ihre Sterblichkeit verloren.“
„Stimmt“, gab Sebastían zu. „Jedenfalls fehlt laut Polizei vom Täter jede Spur.“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Eindeutig Raul.“
„So eine Bestie“, sagte Judy fassungslos und schlug die Hände vors Gesicht.
Phillippe nickte traurig. Auch seine Augen wurden nass.
„Wir müssen anfangen, zu versuchen, eine Struktur dahinter zu erkennen.“, sagte er. „Wenn wir nicht bald wissen, wie Lydia vorgeht, was sie wann vorhat, kommen noch weitere Überraschungen und dann sehe ich schwarz. Dass es diese drei Frauen erwischt hat, ist denke ich kein Zufall. Möglicherweise sind diese Toten verwandt mit hochrangigen Leuten, die als Lydias Feinde bezeichnet werden können. Ich denke mal, es gibt immer noch Menschen da unten, die sich gegen Lydias zunehmende Gewaltherrschaft wehren. Auf die hat sie es natürlich zuerst abgesehen.“
Sebastien hatte während Phillippes Worten weiter im Internet gesucht und war nun offensichtlich fündig geworden.
„Bei Gott – Phillippe – du hast möglicherweise Recht. Eine der Frauen ist beziehungsweise war eine Ehefrau von irgendeinem italienischen Wirtschaftsboss. Einer der letzten Freien. Bei den anderen handelt es sich, wenn ich das hier richtig lese, um Familienmitglieder, wahrscheinlich Töchter.“
„Was soll man gegen so einen Wahnsinn tun?“, fragte Judy.
„Kennt ihr Sun Tzu?“, wollte Phillippe wissen. Sebastien und Judy nickten.
„War selbst vor meiner Zeit. Wir können leider erst dann etwas gegen Lydia unternehmen, wenn wir ihre Organisation besser kennen als sie selbst. Wir müssen herausfinden, wie bei ihr was funktioniert. Damit wir vor ihr wissen, warum sie was wann vorhat. Wenn wir das erst einmal wissen, können wir Italien und damit auch Europa von ihr befreien. Am besten wäre auch, so unvorstellbar sich das anhört, eine Art Profil der beiden zu erstellen. Auch wenn ich Menschenkenntnis habe, das stelle ich mir dann doch als extrem schwer vor.“
„Esoterisch gesehen“, meinte Judy, „heißt es doch sogar, dass sich das Böse selbst zerstört. Mit etwas Glück löst sich ein Teil des Problems ganz von selbst.“
„Du meinst, dass sich Raul irgendwann gegen seine Mutter wendet?“
Judy nickte. „Wäre doch nicht auszuschließen. Wenn wir nicht selbst vorher Opfer der beiden werden. Wahrscheinlich wissen die beiden besser als wir, was passiert, wenn selbst ein Nicht-Sterblicher wie wir den Kopf verlieren würde.“
Phillippe sah seine Freundin nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, Cheri, an dem Punkt kann ich dich beruhigen. Auf diese Weise will Lydia uns nicht loswerden.“
„Was macht dich da so sicher, Honey?“
„Lydia will meine Niederlage mit der größten Befriedigung ihres Lebens verbinden. Und das geschieht nicht, in dem sie mir den Kopf nimmt. Nein. Sie würde wollen, dass ich auf allen Vieren zu ihr gekrochen komme, und ihr bestätige, dass ich mich geirrt hätte und sie Recht hat.“
Judy hielt sich den Mund – fast hätte sie sich verschluckt. Sie hustete.
„Na darauf kann sie lange warten.“
Phillippe nickte. „Natürlich.“
„Für das, was du vorhast, Phillippe“, meinte Sebastien, „brauchen wir mehr Leute.“
„Das Geld, das wir haben, sollte eigentlich reichen.“, überlegte Judy.
Phillippe nickte erneut. „Wir brauchen zwei Schienen, auf die wir uns in der Zukunft konzentrieren. Diese Spionage, die wir brauchen, um Lydias Organisation auszukundschaften, wird das Langwierigste sein. Und wird sich über Jahrzehnte, wenn nicht sogar über Jahrhunderte, hinziehen. Und die andere Schiene wird unsere eigene Fortentwicklung sein.“
„Richtig“, stimmte Judy zu. „Wir müssen uns fortbilden.“
Bei diesen Worten nahm sie nun ein Chubbschloss, und begann damit wieder zu spielen.
„In jedem nur erdenklichen Gebiet. Phillippe und ich werden bald eine Familie haben. Unsere Kinder werden wir ausbilden, wir werden sie lieben, wir werden sie lehren und erziehen. Gleichfalls müssen wir unsere Crew, wenn wir wachsen, ebenfalls ausbilden.“
Sie wandte sich an Sebastien. „Und mit dir fangen wir an. Womit bildest du dich weiter?“
„Internet, Judy.“
„Weißt du, Cheri, vielleicht wird eines Tages aus dir noch eine Prophetin.“, sagte Phillippe bewundernd zu seiner Freundin.
„Deine Frau zu werden reicht mir.“
Phillippe grinste und wollte sich setzen, als er auf einmal begriff. Doch etwas überrascht, sah er Judy an. Diese grinste bis über beide Ohren. Erwartungsvoll.
„War das ein Antrag, Cheri?“
Dann nickte sie kaum merklich.
„Ja, Honey“, sagte sie, erhob sich, lief um den Tisch und sank vor dem verblüfften Phillippe auf die Knie. „Phillippe, von ganzem Herzen fühle ich, dass du die Liebe meines Lebens bist. Würdest du mir die Ehre erweisen, mein Mann zu werden?“
Für einige Augenblicke sah er Judy perplex an. Dann nickte er langsam.
„Ja… einhunderttausend Mal ‚ja’!“
Er hob seine – nunmehr – Verlobte hoch und umarmte sie. Judy jauchzte sogar vor Freude und Glück.
„Dabei war ich noch nie verheiratet.“, erklärte er.
„Macht nichts, Honey. Ich auch noch nicht.“
Sie küssten sich zärtlich, dann stellte er sie wieder auf den Boden.
Der Juni verging, der Juli ebenso und ein heißer August begann. Vor ihrer Hochzeit wollte Judy Phillippe aber noch ihren Eltern vorstellen. Diese wohnten in Birmingham, England.
Phillippe stellte sich recht schnell wieder auf englisch um, da er mit Judy oftmals nur französisch sprach, das sie fließend beherrschte.
Und so kamen sie am Samstag Vormittag bei einem kleineren Landhaus an, in diesem Breitengrad war die Hitze noch erträglich mit dreißig Grad.
Judy hatte ein bezauberndes Kleid angezogen. Und dann standen sie vor Judys Eltern. Elizabeth und Ben Broker.
„Hallo mein Schatz!“, wurde Judy von ihrer Mutter begrüßte.
„Hallo Mom. Hallo Dad“
Dann kam Phillippe an die Reihe. Da er sich natürlich allen Formen des Anstandes auskannte, kam zuerst die Mutter zur Begrüßung – mit einem perfekten Handkuss.
„Mrs. Broker – es ist mir eine große Ehre und auch Freude, Sie kennen lernen zu dürfen.“
Elizabeth Broker sah ihn deswegen mit großen Augen an, er konnte ihr positives Erstaunen fühlen. Dann Judys Vater.
„Mr. Broker, es ist mir ein Vergnügen!“
Judys Vater, der neunundvierzig Jahre alt war, lächelte gönnerhaft.
„Dann kommen Sie mal rein, junger Mann.“
Phillippe sah, dass Judy vor Stolz fast platzte.
„Erzählen Sie mal, Phillippe – wo kommen Sie her?“, wurde er Minuten später, als alle Platz genommen hatten und bei einem Tee beisammen saßen, von Judys Vater gefragt. Judy und er hatten sich darauf verständigt, natürlich nichts von seinem tatsächlichen Leben zu erzählen.
„Nun, Mr. Broker, geboren wurde ich in Ostfrankreich, in Lothringen, in der Nähe von Metz. Aufgewachsen bin ich jedoch in Camarque. Daher auch mein Name – ‚Soiret de Camarque’.“
Phillippe fast es etwas traurig, Judys Eltern nicht seinen richtigen Namen sagen zu können, aber es ließ sich nicht ändern.
„Ja und inzwischen arbeite ich in Judys Universität als Bibliothekar.“
„Haben Sie auch studiert?“
Zu der Geschichte, die sie Judys Eltern erzählen wollten, gehörte auch ein Studium in alten Sprachen – die Phillippe natürlich zwangsläufig konnte.
„Und welche alte Sprachen haben Sie studiert, Phillippe?“, horchte Elizabeth Broker.
„Ach wissen Sie, Ma’am, im Prinzip alle europäischen Sprachen vom frühen Mittelalter an.“
„Das ist faszinierend, Philippe!“, erklärte Ben Broker. „Geben Sie uns eine Kostprobe?“
Phillippe grinste. Natürlich. Die Eltern und auch Judy hörten zu und lauschten den Klang seiner Worte, die nichts anderes als eine Liebeserklärung an Judy darstellten. Es brachte ihm auch einen Kuss ein.
„Phillippe hat inzwischen sogar mit Aikido angefangen. Und er zeigt äußerst viel Talent. Er hat schon zwei Prüfungen erfolgreich abgeschlossen.“
Dann trat Judys Mutter mit einer weiteren wichtigen Frage an beide heran.
„Phillippe – wie ist denn Ihr Auskommen? Können Sie Judy versorgen?“
Er nickte. „Mehr als genug, Ma’am.“
Judy tätschelte etwas verlegen seine Hand. „Mom, Phillippe…er ist… Millionär…“
„Was?? Das ist aber schön!“, rief ihre Mutter daraufhin.
„Ich denke auch, Mr. und Mrs. Broker“, sagte er nun, „ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, falls Sie jemals in finanzielle Engpässe geraten sollten, helfen wir Ihnen gerne aus.“
Für einen Moment sah Judy ihn überrascht an, dann grinste sie.
„Hm… ja. Genau.“
„So, wie es sich gehört.“, fügte er hinzu.
Ben Broker sah beide wieder gönnerhaft an.
„Und Schatz“, sagte Elizabeth Broker, „du liebst ihn, ja?“
Als Antwort küsste Judy ihn fest auf die Wange. „Über alles auf der ganzen Welt.“
„Phillippe“, sagte Elizabeth weiter, „ich möchte Ihnen jetzt auch etwas sagen. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Menschen gesehen, der so interessante und tiefgründige Augen hat wie Sie.“
„Ja, das stimmt.“, bestätigte Judy, die mit seiner Hand spielte.
„Und in Ihren Augen ist sehr viel Liebe zu sehen.“
„Danke Ihnen, Madam. Das hat Judy in mir entfacht.“
„Ihr beide habt meinen Segen!“, erklärte Ben Broker schließlich.
Judy erhob sich und umarmte ihren Vater. „Danke sehr, Dad!“
Und nun kam er zweite Teil des Anstandes. Judy hatte ihm erklärt, dass ihr Vater ein Museum führte. Was auch ihr Interesse für Kunstgeschichte und Kultur erklärte.
„Und, Mr. Broker, da ich gehört habe, dass Sie ein Museum leiten - auf welchen Teil sind Sie denn besonders stolz?“
Ben Brokers Augen leuchteten direkt auf. Es war gar nicht zu übersehen.
„Kommen Sie! Ich zeige es Ihnen!“
Sie fuhren nur ein paar Straßen weiter und erreichten schnell das Museum, das viele Kunstgegenstände des späten Mittelalters und der Renaissance ausstellte.
Phillippe war beim Rundgang schnell mit Judys Vater im Gespräch, der sich nicht wenig beeindruckt zeigte vom Wissen seines zukünftigen Schwiegersohns.
„Wie würden sie das einordnen, Phillippe?“, fragte er ihn und zeigte auf ein kleines Stück Bildhauerkunst.
Mit geübtem Blick besah er sich den Kunstgegenstand und kam schnell zu einem Urteil.
„Nun, Sir, ich würde sagen – Rokoko – genauer gesagt spätes Rokoko. Spätbarock, wie es auch genannt wird.“
Dann erkannte er auch das Stück. „Das ist eine Günther-Arbeit, Bildhauer des Rokoko und auch sogar schon des Klassizismus.“
„Phillippe, Sie beeindrucken mich schwer!“
Phillippe fühlte in diesem Moment Judys Hand wieder in seiner.
„Jetzt habe ich nicht nur eine Tochter, die ein Auge für Kunstgeschichte hat, sondern auch einen Sohn, der sich mehr als nur darin auskennt. Liz – wir sind vom Leben gesegnet.“
„Und ich habe wieder einen Vater.“, sagte Phillippe.
Ben Broker nickte stolz und schüttelte kräftig seine Hand.
„Du darfst Ben zu mir sagen.“
Später beim Abendessen kam ein noch ein anderes wichtiges Thema zur Sprache.
„Sag mal, Schatz“, begann Liz, „wie habt Ihr Euch denn die Familie vorgestellt?“
„Wir sind sehr modern, Phillippe“, warf Ben schnell ein, „was Sexualität und Familie angeht. Deshalb haben wir auch nichts dagegen, dass Judy bereits schwanger ist, obwohl ihr noch nicht verheiratet seid. Wir möchten nur, dass unser Schatz glücklich ist.“
„Wir wollen auf jeden Fall mehr als nur ein Kind, Mom.“, erklärte Judy. „Wir haben uns nur noch nicht entschieden, wie viel mehr.“
„Das ist aber schön.“, freute ich ihre Mutter. „Und werdet Ihr es zweisprachig aufwachsen lassen?“
Für einen Moment sah Phillippe seine Zukünftige überlegend an. Darüber hatten sie noch gar nicht nachgedacht.
„Na Ihr habt ja noch Zeit.“
Judy hustete, auch wegen der Doppeldeutigkeit des Satzes ihrer Mutter. Es ihr nie sagen zu können, schien sie doch ein wenig zu belasten.
„Irgendwann werden meine Eltern es merken“, sagte sie, in Frankreich Sonntagabend wieder angekommen.
„Sie werden merken, dass ich jung geblieben sein werde.“
„Dann sagen wir einfach, dass wir neue Anti-Aging-Rezepte probieren, Cheri.“
Judy fuhr sich über den Bauch und setzte sich auf die Couch.
„Und Sophie, meine Freundin? Sie wird auch irgendwann fragen stellen.“
Phillippe nickte. „Ja, wahrscheinlich.“
„Und dann wird sie glauben, dass ich sie angelogen habe.“, sagte sie traurig.
Er setzte sich neben sie und drückte Judy an sich.
„Wie würde sie denn auf die Wahrheit reagieren?“
Judy zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Eventuell abweisender als ich.“
„Dafür finden wir eine Lösung, Cheri.“
„Unsterblich machen können wir sie ja nicht. Es sei denn du müsstest mir ihr… du weißt schon.“
„Eben. Würde sie denn überhaupt wollen?“
Judys Augen sahen ihn fragend an.
„Das weiß ich auch nicht. Wir können sie ja mal ganz unverfänglich fragen. Trotzdem – dafür müsstest du mit ihr schlafen und da bin ich aus Milliarden Gründen dagegen, wie du dir denken kannst, Honey.“
Er schüttelte den Kopf. „Das wird nicht passieren. Nein. Diese eine kleine Lüge muss bleiben. Oder wir sagen es ihr, ohne dass sie zu Unseresgleichen wird.“
Judy streckte sich auf der Couch aus.
„Wie hat Sebastien denn damals reagiert?“
„So wie du. In etwa.“
Phillippe begann Judys Füße zu massieren.
„Aber die Menschen sind heute verständnisvoller als damals, Cheri.“
„Und du bist nach eintausendzweihundert Jahren nicht mehr allein, Honey.“
Er nickte. „Dank der wundervollsten Frau, die mir in meinem ganzen Leben begegnet ist.“
Tage später kam Sophie nun wieder zu Besuch und zeigte Phillippe einige neue Hacker-Kniffe. Auf der anderen Seite zeigte sie sich überrascht, wie viel Phillippe erstens behalten hatte und was er zweitens davon umsetzen konnte.
„Du machst erstaunliche Fortschritte.“, staunte sie.
„Sagen wir mal, ich weiß, wie man effektiv lernt.“
„Und du willst dich ausgerechnet an Le Chat ausprobieren, Phillippe? Warum gleich die Höhle des Löwen?“
„Na wenn, Sophie, dann richtig.“
Sie zeigte ihm nun ein paar weitere Sachen, die er aufmerksam verfolgte, dann drückte er ihr zum Schluss einen Einhundert-Euro-Lappen in die Hand.
„Phillippe, das ist nicht nötig.“
„Nimm es, Sophie.“
„Ok, wie du meinst.“
Sie verabschiedete sich noch mit einem Küsschen von Judy, danach waren sie wieder allein.
„Was wird der nächste Schritt sein?“, überlegte sie.
Phillippe nickte ihr zu, den nächsten Schritt hatte er sich bereits zurechtgelegt.
„Abschirmung. Da ich annehme, dass Lydia uns inzwischen wieder überwachen lässt, müssen wir schauen, dass sie so wenig wie möglich sieht.“
„Ich stimme dir in diesem Punkt zu, Honey, aber ich sehe da ein Problem.“
Phillippe sah seine zukünftige Frau nachdenklich an.
„Ich weiß, was du meinst. Wir brauchen die Abschirmung schneller als dass ich es zeitlich schaffen könnte, das Wissen dafür zu erlangen.“
„Richtig, das meine ich.“
„Dann müssen wir uns jemanden kommen lassen, der uns berät und dann ein paar Sachen einbaut.“
Judy hatte ihre Beine über die seinen gelegt und streichelte, was inzwischen fast zu ihrer Lieblingsbeschäftigung geworden war, seine Wange.
„Sebastien?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Nein, er ist nicht gut genug. Gibt es an der Uni jemanden, den du kennst?“
Judy dachte einige Augenblicke nach, schüttelte dann aber den Kopf.
„Ich habe aber von einer Frau in den USA gehört. Aber wenn sie herkommen soll, müssten wir ihr alles bezahlen. Ich rechne mal mit fünf- bis zehntausend.“
Er zuckte die Schultern. „Du weißt doch – Geld spielt keine Rolle. Kannst du das in die Gänge leiten?“
Sie küsste ihn. „Gern.“
Es sollte aber noch eine Woche dauern, bis nicht nur der Kontakt hergestellt war, sondern – Dr. Michelle Fox, wie sie hieß – zu ihnen kommen konnte. Sie war Doktorin der Physik und sogar Ingenieurin. Dann war es aber am ersten Samstag im September soweit. Judy holte sie vom Flughafen ab und fuhr sie zur Wohnung.
Phillippe begrüßte die Vierzigjährige – wie gewohnt – per Handkuss und begann noch einmal ausführlich zu erklären, worum es ging.
„Ich vermute mal, der erste Punkt, der anzupacken wäre, ist die Außenkameraeinheit, über die außen stehende Gäste, die hereinwollen, zu sehen sind.“
Die Doktorin nickte. „Ja, ich sehe es. Sie wollen eine elektromagnetische Abschirmung. Am besten mit Mittelsignalblockade, damit sind Sie auf dem neuesten technologischen Stand.“
„Bitte“, bot Phillippe an, „sehen Sie sich um und überlegen Sie, was man noch tun könnte.“
Dr. Michelle Fox stemmte die Arme in die Hüfte und sah sich die Wände und Einrichtungen genau an. Sie murmelte zwischendurch auf einige Fachbegriffe wie ‚Abschirmfaktor’ und ‚Eindringtiefe’. Nach zehn Minuten nickte sie und wandte sich wieder ihm und Judy zu.
„Ok. Hm. Ich könnte Ihnen einiges machen. Ihre Frau – oder Freundin – hat angesprochen, dass Geld keine Rolle spielt. Ist dem so?“
Phillippe nickte. „So lange Sie keine milliardenschwere Pläne haben, ja.“
Die Frau grinste kurz. „In Ordnung. Das, was ich Ihnen einbauen kann, kostet sie je nachdem zwischen fünfhunderttausend bis zu zwei Millionen Euro. Ich selbst kriege fünftausend am Tag exklusive Spesen. Sie zahlen also meine Unterkunft in einem Hotel, dazu freie Kost, also das Übliche. Sind Sie einverstanden?“
„Sie erhalten sogar sechstausend pro Tag, wenn wir auf Ihre Verschwiegenheit zählen können.“
Die Frau lächelte. „Selbstverständlich. Gut, dann stelle ich Ihnen eine Liste zusammen, was wir an Material brauchen werden. Können Sie das beschaffen?“
Phillippe nickte erneut. „Ich habe gute Beziehungen. Wollen Sie ihre Gage cash oder per Überweisung?“
„Überweisung. Ich gebe Ihnen gleich meine Kontoverbindung. Also – reicht Ihnen eine Ausstattung im Wert von einer halben Million oder wollen Sie es erstklassig?“
„Erstklassig“, sagten Judy und Phillippe wie aus einem Mund.
Eine Stunde später gab er an Sebastien die Liste weiter, der dabei erst einmal staunte.
„Ok, Phillippe“, sagte er. „Das meiste davon habt ihr morgen. Einige Sachen übermorgen, bei diesem Apparat, den sie will, das kann vier Tage dauern.“
„In Ordnung, danke, Sebastien.“
Auch Phillippes Internetleitung zu Sebastien sollte eine Verschlüsselung mit einem Gigabyte-NewAge-CBC-Schlüssel erhalten. Michelle hatte ihnen erklärt, solange niemand mit Quantenmechanik arbeiten würde, läge die Chance auf Entschlüsselung Eins zu einhundert Trilliarden.
Zwei Wochen später war soweit alles eingerichtet. Michelle hatte ihnen sogar ein paar hochmoderne Wanzendetektoren beschafft. Sie entlohnten sie, dann fühlte sich Phillippe etwas besser.
„Ab sofort wird Lydia nicht mehr wissen, wen wir empfangen oder was wir hier tun.“, sagte er, als Judy vom Flughafen wieder da war.
Diese strich sich unbewusst über ihren Babybauch, der jetzt langsam sichtbar wurde.
„Ja, wenn sie nichts mehr erkennen kann, wird sie sich denken, wir wären umgezogen. Das wäre theoretisch sogar plausibel, da sie unsere Wohnung hier kennt. Apropos Wohnung – Honey, meinst du nicht auch, dass wir uns demnächst nach etwas Größerem umsehen sollten?“
Phillippe hockte sich auf die Couch. „Definitiv. Allerdings sollten wir dann nicht irgendein Haus nehmen. Bei dem, was wir vorhaben, brauchen wir sogar eine Art Labor. Eventuell auch ein Rechenzentrum. Dann könnten wir Sebastien hierher verlegen.“
Judy sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Und eine Sporteinrichtung.“
„Einverstanden. Und alles zusammen – dafür brauchen wir einen Architekten.“
„Jeder. Solange es nicht Jason ist. Ach nein – stelle dir vor, Honey – ich habe gehört, dass Jason aufgehört hat mit der Architektur.“
Phillippe musterte seine zukünftige Frau. „Klingt, als wäre er nicht sehr ehrgeizig.“
„Das war er nie. Aber wenn wir einen Architekten brauchen, dann einen, der sich auf so ein komplizierteres Konzept versteht.“
Der Mann, mit dem sich Phillippe nun traf, zeigte ihm erst einmal drei Dutzend Bauwerke, die durch ihn entstanden waren. Judy, die noch Semesterferien hatte, war ebenfalls mitgefahren und staunte nun.
Anschließend suchten sie noch zwei weitere auf, dann beratschlagten sie.
„Also ich würde sagen, der Zweite oder Dritte, bei dem wir waren. Mein Instinkt sagt mir zwar der Zweite, aber ein paar Entwürfe, die der Dritte uns gezeigt hat, haben mir auch sehr gefallen.“
Phillippe nickte. „Mein Instinkt sagt mir ebenfalls, den Zweiten zu nehmen.“
Abends im Bett während sie kuschelten, schien Judy zu spüren, dass Phillippe weitere Sachen beschäftigten.
„Woran denkst du, Honey?“, wollte sie wissen und fuhr mit den Fingerspitzen über seine glatte aber doch muskulöse Brust.
„Weißt du, Cheri, ich habe seit eintausendzweihundert Jahren eine Laune der Natur in mir und weiß nach wie vor sehr wenig darüber. Das muss sich ändern. Ich muss zusehen, dass ich mir Kenntnisse im Bereich der Mikrobiologie aneigne. Irgendetwas an meiner und auch deiner DNS muss mehr als ungewöhnlich sein. Das müssen wir herausfinden.“
Judy nickte. „Einverstanden. Das klingt gut.“
„Ich hätte damit nur viel eher anfangen müssen. Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf Lydia konzentriert.“
„Honey, da wir zusammen sind, können wir uns jetzt einiges teilen. Lass mich erst mal die letzten beiden Semester Kunstgeschichte zu Ende machen, du kannst ja inzwischen mit der erweiterten Physik und Biologie anfangen. Wenn ich dann fertig bin, mache ich das dann ebenfalls. Wir können ja beide Naturwissenschaften als Kernbereiche festlegen. Und dann macht jeder noch einen oder zwei Bereiche seiner Wahl. Allerdings muss ich mich dann ranhalten. Also ob ich die Geschwindigkeit, mit der du lernst, jemals erreichen werde.“
„Das bringe ich dir bei, Cheri. Und morgen sagen wir M. Zuram Bescheid, dass er anfangen soll?“
„Für den Entwurf, ja. Und das gesamte Konzept kostet dann einhundertfünfzigtausend?“
Phillippe nickte. „Ja. Das sind die Architektengagen.“
Er beugte sich zu ihr und küsste sie. Dann strich er sanft über ihren Bauch.
„Und unserer Kleinen geht es gut?“, horchte er. Sie wussten seit einer Woche, dass Judy ein Mädchen erwartete.
„Hm“, schnurrte sie vergnügt.
In den nächsten Tagen erhielten sie insgesamt fünfzehn dicke Bücher, sechs davon für Biologie, der Rest Physik. Außerdem hatten sie jede Menge Software bestellt.
Da Phillippes Wissensstand bei den Naturwissenschaften ohne weiteres mit einem Collége-Abschluss vergleichbar war, hatte er keine Mühe, in die weiterführende Materie einzusteigen.
Solange er noch Urlaub hatte, studierte er morgens Biologie, mittags eine Stunde Hacking, nachmittags dann Physik. Dazu verwendete er Lernsoftware, die Praxisbeispiele zeigte.
Judy hatte sich zwar verwundert gezeigt, dass er keine Universität besuchen wollte, da diese doch so nah lag, aber er hatte ihr erklärt, dass ein Doktorentitel zu viel Aufsehen erregen würde. Sie durften Lydia nicht noch mit der Nase darauf stoßen, was sie möglicherweise vorhaben könnten.
Und dann war endlich der Tag der Hochzeit da. Sie hatten sich verständigt, dies in einem kleinen Kreis zu tun. So waren nur Judys Eltern, Sophie und Sebastien zugegen. Judy hatte sich trotzdem für ein Brokatkleid in Silber entschieden und sie sah absolut hinreißend aus. Sie hatten sich weiterhin darauf verständigt, dass Judy ihren Namen behalten würde, auch die Kinder würden später einmal Broker heißen. Wie auch immer, sehr schnell wurden ihre Ringfinger von dünnen, aber schmuck aussehenden Goldringen verziert.
Der Herbst begann, auch wenn es erst einmal noch mild blieb. Der Auftrag für das große Anwesen war erteilt worden, M. Zuram hatte vier Monate veranschlagt, in denen er ihnen zwei Modelle konzipieren wollte.
Und auch Judy war anzumerken, dass das letzte Studienjahr am meisten Stress bedeutete. Selbst abends, wenn sie nicht gerade Aikido hatten, hockte sie über ihren Büchern. Welches Thema sie als Magisterarbeit nehmen wollte, wusste sie noch nicht genau, aber sie wollte sich bald eines von zwei bereits ausgesuchten Themen festlegen.
Da auch Phillippe längst wieder in der Bibliothek arbeitete, hatte er sein Privatstudium zum Teil einfach hierhin mitverlegt.
Und dann eines Abends, es war bereits Oktober, hatte er plötzlich Erfolg, als er wieder einmal versuchte, sich in Lydias Netzwerk zu hacken.
„Was ist, Honey?“, erkundigte sich Judy und kletterte vorsichtig hinter ihn.
„Eine Art Video beziehungsweise Kamera. Ich nehme es auf. All zu lange kann ich nicht bleiben. Bei den Signaldetektoren, die Lydia verwenden dürfte, haben ich maximal dreißig Sekunden. Und das war es.“
Phillippe unterbrach die Verbindung.
„Zeig es noch einmal, Honey“, bat Judy und er ließ das aufgenommene Video wieder abspielen.
Es war eine Art Wohnzimmer zu sehen, geräumig. Im hinteren Teil, der für gerade einmal fünf Sekunden zu sehen war, sah er eine Art Pool, an dem zwei Frauen auf Liegen ruhten. Phillippe ließ den kleinen Ausschnitt vergrößern, dann sah er es. Eine brünette sowie eine blonde Frau lagen am Pool – und neben der Blonden spielte ein Kind.
Phillippe lehnte sich langsam nach hinten an Judy, die, wie er fühlte, das Bild genauso nachdenklich betrachtete.
„Sind das Rauls Frauen?“, überlegte sie.
„In Anbetracht der Sicherheitsstufe sehr gut möglich, Cheri. Wenn es seine Frauen sind und wenn das hier sein Kind ist, ist jede von ihnen genauso nicht sterblich wie wir.“
„Also wenn das ein Sicherheitsbereich ist, dürfte das bedeuten, dass die da drin eingesperrt sind.“, mutmaßte Judy.
Phillippe blies aus. „Ja.“
Judy kletterte um ihn herum. „Die Frage ist – wissen sie über sich selbst und diese Veränderung Bescheid und wenn ja – akzeptieren sie es?“
Er rieb sich die Augen. „Stell dir mal vor – du hockst da drin – bis in alle Ewigkeit. Da würde ich wahnsinnig werden.“
Judy zuckte die Schultern. „Es sei denn, sie haben alle den gleichen Intelligenzbereich, den ich Raul zutrauen würde. Dann dürfte es ihnen nichts ausmachen und sie könnten es sogar genießen.“
„Du meinst, er kann mit intelligenten Frauen wie dir nichts anfangen?“
Sie wiegte ihren Kopf. „Das vermute ich. Ich glaube auch, jede intelligente Frau würde ihn innerhalb von Sekunden durchschauen.“
Phillippe grinste. Damit konnte sie Recht haben. Er schaltete das Video erst einmal ab.
Er merkte auch bald, dass er von Sophie sehr gut unterwiesen wurde, denn Lydia blieb nach wir vor stumm. Auch seine Fortschritte im Aikido konnten sich sehen lassen. Bereits die vierte Prüfung hatte er erfolgreich hinter sich bringen können.
Immer wieder hackte er sich in Lydias Netzwerk, hatte aber nicht immer Erfolg. Auch tat er es jedes Mal zu einer anderen Uhrzeit. Sollte sie ihn inzwischen doch bemerkt haben, so ließ Lydia es sich nicht anmerken.
Dann eines Tages hatte er plötzlich den Grundriss des Sicherheitsbereiches vor sich. Nicht nur er selbst war verblüfft, auch Judy staunte.
Und nun ergaben sich ihnen mehrere Dinge gleichzeitig. Das Anwesen war größer, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Und sie sahen auch, dass der Hauptwohnbereich aus drei gleichen Teilen bestand.
Judys Augen wurden schmal.
„Also zwei Frauen haben wir bereits gesehen. Dann ist das dritte Anwesen entweder für die Kinder – oder aber…“
„… er hat noch eine dritte Frau. Vielleicht finde ich demnächst noch weitere Kameras.“
Phillippe sah überlegend seine Frau an. „Wir kommen voran, Cheri.“
Judy grinste ihn wie ein Sonnenschein an und küsste ihn sanft.
Tage später kam er wie üblich von der Arbeit in der Bibliothek und sah Judy wieder über einem Buch hocken.
Er küsste sie und hockte sich neben sie. Und nahm sich das Physikbuch, das er zurzeit durchging.
Neugierig sah Judy zu ihm. „Wie weit bist du, Honey? Beziehungsweise wo?“
Phillippe drehte das Buch um.
„Signalverarbeitung. Schnelle Fourier-Transformation.“
Verblüfft beugte sie sich, so gute es mit ihrem Babybauch ging, nach vorn und begutachtete die Buchdicke jenes Teiles, das bereits hinter ihm lag.
„Du bist rasend schnell.“
Er nickte. „Ich will schließlich wissen, wie all das Zeug funktioniert, das Mme. Fox hier eingebaut hat.“
Judy nickte mit ihrem Lächeln und legte ihr Buch zur Seite.
„Honey ich habe eine Idee, wie du zur Uni gehen könntest, ohne dass Lydia auf dich aufmerksam wird.“
Neugierig sah Phillippe seine Frau an. „Ich höre.“
„Da du dich ja mit unterschiedlichen Identitäten auskennst, schreibe dich unter einem anderen Namen ein. Dazu müsstest du noch eine Art Gesichtsmaske tragen, weißt du, so wie in dieser einen Fernsehserie.“
Er nickte. Dieser Vorschlag hörte sich nicht schlecht an.
„Das würde aber nur soweit funktionieren, wie ich Lydia nicht direkt gegenüberstehe. Sie würde mich an meinen Augen erkennen.“
„Dann versuche farbige Kontaktlinsen.“
„Zugegeben, Cheri, das könnte in der Tat klappen. Allerdings fürchte ich, dass ich inzwischen schneller lerne, als die Professoren zu lehren imstande sind.“
Judy machte große Augen. „Oh. Apropos. Ich habe inzwischen den Eindruck, dass ich mindestens eine weitere Gabe von dir erhalten habe.“
„Welche denn?“
„Ich glaube, Cheri, dass ich mit dem Stoff des letzten Studienjahres wesentlich besser zurechtkomme, als es zu Beginn des Studiums der Fall war. Eigentlich ist es anders herum. Irgendwie scheine auch ich schneller lernen zu können.“
Nachdenklich fuhr sich Phillippe durch seine Haare. Sollte das tatsächlich der Fall sein? Hatte er seiner Frau mehr Fähigkeiten mitgegeben, als er ahnte? Er ärgerte sich, dass er noch immer nicht so weit in der Biologie beziehungsweise der Mikrobiologie war, wie er gern wäre. Aber trotzdem… ein weiteres Hilfsmittel war überfällig.
„Du willst ein Mikroskop bestellen? Schön! Und was für eines?“
Phillippe fuhr mit der Hand über Judys Beine.
„Ich denke, ein Lichtmikroskop. Wahrscheinlich ein Konfokales Lasermikroskop.“
„Konfo… was?“
„Konfokal. Damit können…“
Phillippe versuchte, die geeigneten Worte zu finden, um es ihr zu erklären.
„… ach sieh es dir im Internet an. Mein Kopf ist zu voll, um es dir richtig zu erklären.“
Seine Frau schmunzelte. Dann legte sie ihr Buch zur Seite.
„Komm, Honey, gehen wir etwas spazieren.“
Die kühle abendliche Brise tat ihnen beiden sehr gut und Hand in Hand liefen sie durch Paris’ Straßen.
„Ich bin auf das Modell unseres Hauses sehr gespannt.“, sagte sie. „Das müssen doch dann mehrere Etagen sein, wenn wir so viele Dinge dabei haben wollen.“
„Ja, Cheri“, meinte er, „aber ich denke nicht, dass er jeden einzelnen Teilbereich in eine Etage für sich stecken wird. Etwas Flexibilität und Dynamik brauchen wir denke ich. Ich schlage auch vor, dass wir denjenigen Entwurf nehmen, der genau die beiden Punkte am besten abdeckt.“
Judy nickte, sie war einverstanden.
„Weißt du, was das Schöne an unserem andersartigen Sein ist, Honey? Wir können der Menschheit dabei zu sehen, wie sie sich weiter entwickelt. Bald werden sich die Autos in die Lüfte erheben, die Menschen werden das Sonnensystem besiedeln, nach den Sternen greifen… und irgendwann werden die Menschen ins Paradies zurückfinden.“
„Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass es zu alldem kommt.“
„Ach Honey – man muss natürlich erst einmal einen Traum haben, damit er sich erfüllen kann.“
Judy zitierte jemanden. Phillippe grinste wieder und überlegte, von wem es war, kam aber nicht darauf.
Sein Arm wurde lang, Judy war stehen geblieben.
„Phillippe, Honey. Ich bin sehr glücklich.“
Er lächelte, warm ums Herz und bestätigte ihr das Gleiche.
Sie zog seinen Kopf zu sich und küsste ihn sanft und sinnlich.
„Und das in der Stadt der Liebe.“, grinste sie.
Phillippe merkte auch, dass er ihre Brust fast nicht mehr erreichen konnte, ohne ihren Babybauch fest zu berühren.
Zehn Tage später wurde das neue Mikroskop geliefert und Phillippe und Judy packten es voller Neugier und Vorfreude aus.
„Ich habe nur die Befürchtung, dass der PC dafür nicht ausreicht. Das Programm, dass das Zeug auswertet, braucht dreieinhalb GHz, um alles richtig anzeigen zu können.“
„Dann müssen wir eben einen neuen PC bestellen. Am besten gleich mit sechzehn Kernen. Dann dürften wir damit für ein paar Jahre gut ausgelastet sein.“
Trotzdem schlossen sie das Mikroskop an, Phillippe startete ein mitgeliefertes Programm und stöhnte auf, als er die Programmbeschreibung sah.
„Warte, Honey, hier ist ein Tutorial.“
Er nickte und startete dasselbe mit einiger Erleichterung.
Fünfzig Minuten später wussten beide das Wichtigste.
„Probieren wir?“
Judy nickte erwartungsvoll. „Natürlich. Aber womit?“
Phillippe schabte mit einem Messer etwas Haut von seinem Arm, behandelte das Probestück und legte es unter das Objektiv.
„Na jetzt bin ich gespannt.“, sagte er und aktivierte das Mikroskop. „Nach über eintausend Jahren blicke ich zum ersten Mal in mich hinein.“
Und dann staunten sie Bauklötzer. Phillippe hatte das Programm auf Zellbeobachtung eingestellt, er vergrößerte das Bild noch weiter. Und sie staunten weiter.
„Ich komme mir fast vor wie in einem früheren Biologieunterricht.“, sagte Judy grinsend und setzte sich auf seinen Schoß.
„Willst du dir die DNA anschauen?“
Phillippe nickte.
„Dann nimm den Zellkern. Der ist ja unübersehbar. Mann ist das aufregend!“
Phillippe sah, dass sich Judy wie ein Kind freute. Aber ihm erging es nicht anders. Wieder sahen sie kurze Lichtimpulse, die nun in den Zellkern einzudringen schienen. Und schließlich hatten sie Chromosomen vor sich. Phillippe vergrößerte erneut – und dann hatten sie die Doppelhelix vor sich. Schweigend betrachteten sie minutenlang das Gebilde.
Er vergrößerte ein letztes Mal, so dass die DNA dann über dem gesamten Bildschirm zu sehen war.
„Jetzt müssten wir die vier Hauptbasen vor uns haben. ‚G’, ‚C’, ‚A’ und ‚T’.“
Er tätigte noch ein paar Einstellungen am Programm, das nun automatisch jene Basen markierte. Doch dann sah er auch etwas anderes. An einigen Stellen, insgesamt in einer Häufigkeit von acht Prozent war – eine fünfte Base zu sehen. Phillippe klappte der Unterkiefer herunter.
„Das gibt’s doch nicht. Judy – siehst du das?“
„Ja. Ich sehe es. Ist das ein Programmfehler?“
Prüfend sah er immer wieder über unbekannten und nicht identifizierten Teile.
„Das ist es.“, sagte er schließlich. „Ich habe ein unbekanntes Basenteil.“
„Und was macht das?“
„Keine Ahnung. Das müssen wir herauskriegen, Cheri. Ich speichere ab.“
„Reche doch mal aus, wie viel du insgesamt davon hast.“
Phillippe ließ das Programm rechnen, dass nach einer halben Minute auf über zweihundertneunundvierzig Millionen kam.
„Dann müssen wir entschlüsseln, was diese unbekannten Teile genau machen.“, meinte Judy.
Phillippe nickte. „Das wird Jahre dauern.“
Sie küsste ihn. „Hast du etwas anderes vor?“
Er grinste. „Bis morgen wird die Probe unbrauchbar sein.“
„Ich würde morgen gern ein Stück von mir untersuchen. Dann werden wir wissen, ob meine DNA die gleichen Teile hat.“
Sie gähnte. „Komm, Honey, bring mich ins Bett.“
Sie schalteten PC und Mikroskop aus und legten sich zur Ruhe.
Vierundzwanzig Stunden später ergab sich, dass Judys DNA die gleichen seltsamen Basen aufwies, jedoch hatte sie ein paar Millionen weniger. Phillippe vermutete, dass die Tatsache, dass Judy erst vor wenigen Monaten ihre Sterblichkeit verloren hatte, dafür verantwortlich war.
Am Freitag darauf liefen sie wieder durch die abendlichen Randbezirke, als sie es plötzlich gewaltig krachen hörten. Die Gegend, durch die sie liefen, gehörte zu den Ältesten in Paris und Phillippe vermutete, dass es hier nicht wenige baufällig Gebäude gab. War eines davon eingestürzt?
„Komm, wir sehen uns das an!“, sagte Judy und zog ihn in jene Richtung, aus der der Lärm gekommen war.
Und tatsächlich – nach zwei Minuten sahen sie eine gewaltige Staubwolke – hier war in der Tat ein Haus eingestürzt.
Und kaum war der Staub verzogen, als sie jemanden um Hilfe rufen hörten. Es war eine Frau. Sie liefen noch ein paar Meter, dann sahen sie ein älteres Paar – der Mann schien von einem großen Betonpfeiler eingeklemmt zu sein.
„Wir brauchen Hilfe… ist da jemand?“, hörten sie die Frau rufen.
Ohne weiter zu überlegen, begann Phillippe über den Schutt und die Trümmer zu klettern.
„Ah, junger Mann. Gott sei Dank sind Sie da. Können Sie meinem Mann helfen? Er ist eingeklemmt.“
Dann war er bei den beiden angelangt und musterte den halb-kaputten Pfeiler, der gut und gerne drei bis vier Zentner wiegen musste.
„Das werden sie nicht schaffen, das ist zu schwer, Monsieur.“
Phillippe atmete tief durch und ging in die Knie.
Und jetzt zum ersten Mal sollte auch Judy Zeuge werden, welche ungewöhnliche Kraft in ihm steckte.
Aufgrund ihrer Schwangerschaft konnte sie natürlich nicht mit anpacken.
Phillippe fasste den Pfeiler an zwei Kanten unterhalb an – und zog ihn doch mit einiger Mühe und leichtem Stöhnen Zoll für Zoll nach rechts. Der Mann japste vor Schmerz, aber er war frei. Phillippe erhob sich wieder und sah, dass ihn die alte Frau verblüfft ansah.
„Sie sind aber sehr stark, Monsieur.“
„Ja, das ist er“, bestätigte Judy grinsend. „Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Er dürfte gleich hier sein.“
Nun erst merkte Phillippe, dass ihn der Verletzte ansah, als wäre Phillippe ein Geist.
„Monsieur Dubois – sind Sie das? Aber das ist nicht möglich!“
Mit offenem Mund sah Phillippe den alten Mann an. Dieser hatte ihn mit seiner früheren Identität wieder erkannt?
„Kennen wir uns, Monsieur?“
„Ich bin’s, Monsieur, Francois Satini! Erinnern Sie sich an mich? Aber wie sind Sie so jung geblieben??“
Ein Ziehen in Phillippes Kopf ließ Erinnerungen wach werden.
„Monsieur Satini?? Aber natürlich! Neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Die Seine!“
„Ja – Sie haben mich damals, als ich betrunken reingefallen bin, herausgezogen! Monsieur – wie in aller Welt sind Sie so jung geblieben??“
Gefahr! Phillippe hörte seine innere Stimme und seinen Instinkt rufen. Also Plan ‚B’.
Er grinste. „Nein, Monsieur. Sie verwechseln mich mit meinem Vater. Ich sehe ihm nur sehr ähnlich.“
Phillippe warf einen Seitenblick auf Judy, die schmunzelte.
„Mein Vater hat mir einmal erzählt, dass er Sie damals aus der Seine gefischt hat. Das ist jetzt siebenundfünfzig Jahre her.“
„Ja, natürlich, Monsieur – so muss es sein. Natürlich. Wie geht es denn Ihrem werten Herrn Vater?“
„Er ist nicht mehr am Leben. Er starb vor Jahren.“
So wie auch sein Name als Dubois, dachte Phillippe.
„Er lebt nicht mehr? Das ist schade.“
„Ja, Monsieur. Den Namen Dubois habe ich auch nicht mehr. Ich heiße jetzt Soiret de Camarque. Aber das ist jetzt eine lange Geschichte.“
„Dann sind wir Ihnen und Ihrer Familie ein zweites Mal etwas schuldig.“
Phillippe zuckte die Schultern. „Ein Dankeschön reicht völlig, M. Satini.“
Mme. Satini drückte fest Phillippes Hände, auch die von Judy.
„Vielen Dank!“
Sie verließen die beiden wieder und setzten ihren Spaziergang fort. Judy kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus.
„Passiert dir das öfter, Honey?“
„Sagen wir mal, es kann passieren. Aber die Vater-Geschichte hilft in einem solchen Fall immer.“
„Und du hast ihn neunzehnhundertsiebenundfünfzig aus der Seine gezogen?“
Phillippe nickte.
„Ich bin damals über eine der Brücken gelaufen, als ich etwas ins Wasser klatschen hörte. Er war wohl betrunken durch die Straßen gelaufen und hatte die Orientierung verloren. Also sprang ich hinterher und konnte ihn herausfischen.“
„Dann hast du ihm damals das Leben gerettet.“
Phillippe nickte wieder und bekam einen Kuss von seiner Frau.
Sie sahen nun auch ein anderes Liebespaar, das an ihnen vorbei lief.
Als sie zurückkamen, packte Phillippe den neuen PC aus, der geliefert worden war. Aufgrund dessen, was sie brauchten, war es ein High-End-PC.
„Sechzehn Kerne“, las Judy, „vier GigaByte Speicher, ausbaubar auf acht. Drei TeraByte Festplattenspeicher auf SATA-2-Basis. Dazu eine zwei GigaByte PCI-Express-Karte. Allerhand. Wow. Sogar fünf MegaByte Level-IV-Cache für die Prozessorkerne. Und natürlich Parallelverarbeitung.“
Phillippe steckte die bisherige Mikroskop-PC-Verbindung auf den neuen PC um und startete ihn.
„Haben wir da auch ein paar Spiele dafür?“, horchte Judy grinsend.
„Sieh dich im Internet um, Cheri, da findest du alles, was du möchtest.“
Sie grinste weiter. „Also so ein paar schöne Denkspiele hätte ich schon gern.“
Phillippe aktivierte nun wieder das Biologieprogramm und holte sich die alten Daten.
„So, jetzt wollen wir mal sehen, wie lange er zur Dekodierung dieser Gen-Sequenz benötigt.“, sagte er und lehnte sich an den Sessel. Judy setzte sich wie üblich auf seinen Schoß.
„Was – zwanzig Minuten?“ horchte sie. „Das kann doch nicht sein oder?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Nein, Cheri, so lange benötigt er, um herauszufinden, was er für die Berechnung an Grundlagen braucht.
Judy lehnte sich auf seinen Körper der Länge nach hin. Ihr Haar flog über seinen Kopf und Phillippe begann aus Spaß, Zöpfe zu flechten. Er sah wieder ihr Grinsen.
Nach jenen zwanzig Minuten und etwas unbeholfenen Flecht-Versuchen hatten sie das Ergebnis.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es Judy, sie setzte sich auf.
Phillippe brauchte auch ein paar Augenblicke, ehe er die Zahl verstand. Zweiundfünfzig Jahre!
„Wir brauchen mehr Rechenleistung, Honey.“
Er nickte. „Wir bräuchten so etwas wie das Verteiltes-Rechnen-Projekt.“
„Dann machen wir das auch. Wir brauchen nur mehr Kerne. Ich weiß nicht, so…“
Judy verzog ihr Gesicht. „… ein- bis zweitausend Kerne?“
Nachdenklich sah er seine Frau an. Dann nickte er kaum merklich.
„Ich denke, ja. Wenn wir es bis auf zwölf Monate herunterkriegen, ist es ok.“
„Dann müssen wir noch einmal einhunderttausend für eine Art Rechenzentrum hinblättern.“
„Richtig, Cheri.“
Als am nächsten Tag Sophie vorbei kam, staunte sie über den neuen PC.
„Tja, so ein Ding hätte ich auch gern“, meinte sie.
Judy machte einen Kaffee für Phillippe und ihre Freundin, für sich selbst Tee.
Dann erst bemerkte Sophie das Mikroskop.
„Wow, Phillippe – Judy, ihr habt ja teure Hobbys.“
Phillippe nickte. „Ja, dann können wir besser Verstecken spielen.“
Judy und Sophie lachten los, als sie den Witz verstanden hatten.
„Es ist schade, dass du nicht mehr mittrainierst, Liebes“, sagte Sophie zu ihrer Freundin. „Aber in deinem Zustand geht das ja auch schlecht.“
„Sophie, ich würde dich gerne etwas Persönliches fragen.“, begann Phillippe einen Versuch.
„Dann frag“
„Könntest du dir vorstellen, unsterblich zu sein, also mehr oder weniger ewig zu leben?“
Phillippe sah, wie Judy ihn schlagartig ansah und ihr Kiefer herunter klappte.
Sophie sah ihn mit großen Augen an.
„Unsterblich?“, wiederholte sie ihn, sah aber nicht die Überraschung im Blick ihrer Freundin. „Ach Gott, du fragst mich was.“
Sie überlegte einen Moment, während Judy mit dem Tablett kam.
„Es wäre bestimmt auf eine gewisse Art und Weise interessant. Aber ich denke auch, dass irgendwann einmal Schluss sein muss.“
„Man könnte aber auch“, versuchte Phillippe sie weiter zu führen, „dabei zu sehen, wie sich die Menschheit weiter entwickelt und irgendwann friedlich wird. Hoffentlich.“
„Wie gesagt, in der einen oder anderen Hinsicht fände ich es hochinteressant, aber im Gesamtblick wäre es nichts für mich. Das ist dann eher was für Hollywood. Gibt es ja auch schon.“
Phillippe sah und merkte, wie Judy ihn leicht mit dem Bein anstieß und, als er zu ihr sah, bittend den Kopf schüttelte.
Na schön, dachte er. Bis hier hin.
„Du hast recht, Sophie“, schloss er. „Hollywood.“
„Mein Honey und ich haben uns selbst schon einmal darüber unterhalten.“, erklärte Judy. „Phillippe meinte, er könnte es sich gut vorstellen.“
Judy und Sophie unterhielten sich noch ein paar Minuten, als wieder sein Herz zu Phillippe sprach. Über eintausend Jahre war er ohne richtige feste Beziehung gewesen. Es hatte zwar Kandidatinnen gegeben, ja – aber keine hatte es geschafft, sein Herz zu erobern. War das Vorsehung? Sollte er sein Herz für Judy aufbewahren?
Judy gab ihm soviel Liebe, Wärme und Glück, wie er es eigentlich fast immer noch nicht fassen konnte.
Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, stand auf und telefonierte.
Dann begab er sich zu den beiden Frauen zurück. Eine Stunde später klingelte es, er stand auf, nahm ein Paket entgegen, das er vorsorglich versteckte.
Am Abend verabschiedeten sie Sophie, sahen dann noch fern. Anschließend nahm sich Judy wieder ein Buch, das sie jedoch nach elf Uhr beiseite legte. Phillippe bekam noch einen Kuss, dann legte sie sich zur Ruhe.
Nun beobachtete er sie, wartete, bis sie eingeschlafen war. Er hatte seinen Kopf auf die Hand gestützt, ließ die andere über ihren Körper gleiten.
Phillippe atmete tief ein und fuhr ganz leicht, um sie nicht zu wecken, durch ihr Haar. Mehr und mehr begriff er, was Judy ihm bedeutete. Sie war die größte Liebe seines Lebens, sie war… sie war… das komplette Gegenteil von Lydia.
Lydia hatte sich zu einem Wesen voller Hass, Verachtung, Kälte und Unberechenbarkeit entwickelt. Sie war die fleischgewordene Dunkelheit.
Judy war… sie war Liebe, eine Liebe, die manchmal überzuquellen drohte, sie war Wärme, Güte, Leidenschaft – es war, als hätte sie unendlich viel Licht in sich.
Phillippe beugte sich zu ihr herunter und berührte ganz sanft mit den Lippen die Stelle hinter ihrem Ohr. Es war ein Kuss, so leicht wie eine Feder. Er glaubte sogar für einen Moment, sie würde im Schlaf seufzen.
Dann rollte er sich aus dem Bett, ging zu dem Versteck, nahm das Paket an sich, öffnete es und entnahm ihm – sieben rote Rosen!
Ganz leicht stieg er zurück aufs Bett und begann ganz vorsichtig, alle sieben Rosen über der Frau seines Herzens und seiner Träume auszubreiten. Damit sie nicht zu schnell verwelkten, hatte jede Einzelne der Rosen am Stielende eine Kapsel mit Wasser darin. Damit konnten sie sich vierundzwanzig Stunden halten.
Nun legte sich auch Phillippe müde zur Ruhe.
Er wurde wieder wach, als der Duft einer Rose in seine Nase stieg. Er öffnete seine Augen und sah, dass Judy die Rosen natürlich bemerkt hatte und mit einer von ihnen seine Nase gekitzelt hatte.
Er sah ihr Lächeln – dazu zwei kleine Tränenrinnsale, die über ihre Wangen liefen, dann küsste sie ihn. Sanft. Ganz sanft.
„Ich liebe dich auch über alles“, flüsterte sie kaum hörbar.
Sie verteilte weiter Küsse voller Zärtlichkeit über sein Gesicht, legte nun vier der sieben Rosen über seine Decke und schmiegte sich mit ihrem nackten, warmen Körper fest an seinen.
Phillippe drückte Judy fest an sich, ohne natürlich das Baby zu vergessen, das mehr und mehr in Judys Bauch zu erkennen war.
Zwei Stunden später, als es gegen sieben Uhr war, wurde Phillippe wieder durch einen Kuss geweckt.
Dann standen sie zusammen unter der Dusche.
„Das war eine wunderschöne Liebeserklärung, Honey!“
„Ich weiß jetzt, Cheri, dass ich eintausend Jahre auf dich gewartet habe.“
Ihre Arme schlangen sich wieder um seinen Hals.
„Wir sind für einander bestimmt.“, sagte sie, das Gesicht an seinen Hals gedrückt. „Zusammen können wir die Ewigkeit meistern.“
Fest hielt Phillippe Judy in seinen Armen. Sie war sein. Seine Frau. Sein Leben. Seine Liebe. Und auch bald die Mutter seiner Kinder.
„Cheri, ich habe nachgedacht“, sagte er am Abend desselben Tages, als er von der Arbeit kam.
„Habe ich auch, Honey. Aber erzähl zuerst.“
„Nächstes Jahr, sobald das Baby da ist, werde ich einen Privatlehrer engagieren.“
Judys Arme schlangen sich um seine Taille und sah ihn überrascht an.
„Einen Privatlehrer?“
Phillippe nickte.
„Ja, zuerst einen für dich, dass du ohne Probleme zu Ende studieren kannst. Und dann einen für uns beide einen zusammen. Für welches Gebiet, das können wir uns bis dahin überlegen.“
„Und was kostet so ein Lehrer?“
„Weiß ich nicht genau“, gab er zu. „Aber ich schätze mal so zehntausend im Monat. Dann kann dieser Lehrer sich an unsere Geschwindigkeit anpassen.“
Judy streichelte über seine Brust. „Ok. Das klingt gut. Das ist sehr lieb von dir, Honey. Ich hatte schon begonnen, zu überlegen, ob wir ansonsten einen Babysitter engagieren.“
„Und worüber hattest du nachgedacht?“, wollte er nun wissen.
Judy löste sich von ihm und setzte sich.
„Ich möchte, dass wir Sophie nun doch die Wahrheit sagen. Ich möchte mit dieser Lüge nicht leben müssen. Sie ist meine beste Freundin.“
Phillippe atmete tief durch. Gedanken schossen durch seinen Kopf. Konnte Sophie damit umgehen?
„Lass es uns bitte versuchen, Honey.“
Etwas gequält grinste er.
„Du solltest langsam wissen, dass ich dir keinen Wunsch abschlagen kann, Cheri.“
„Danke, Honey.“
„Was glaubst du, wie sie reagieren wird?“
Judy wiegte ihren Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber ich möchte, dass sie die Chance hat.“
„Dann musst du auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie anschließend die Freundschaft kündigt.“
„Ich hoffe, nicht.“
Seine Hand glitt über ihre Wange. „Es wird alles gut, Cheri.“
Sanft berührte sein Mund ihre Lippen.
So kam es auch, dass Judy die nächsten beiden Tage deutlich nervöser war. Auch Phillippe war froh, dass Sophie endlich wieder zu Besuch kam, wie inzwischen üblich einmal die Woche.
„Also Phillippe, ich glaube, in spätestens drei Jahren hast du uns in Aikido überholt.“
Er grinste und öffnete eine Weinflasche, mit der er zwei Weingläser füllte.
„Der ist einhundertfünfzig Jahre alt, Sophie.“
Diese machte große Augen.
„Wow! Wie komme ich dazu?“
Er stellte eines der Gläser direkt vor sie.
„Weil sich dein Leben gleich verändern wird. Du wirst etwas von uns beiden erfahren, was gewissermaßen im ersten Moment unglaubwürdiger klingen wird, als die Meldung, dass Außerirdische aufgetaucht wären.“
Sophie klappte der Mund auf.
„Ihr macht mich neugierig. Ich bin gespannt.“
„Stelle dir vor, Liebes“, begann Judy. „Phillippe hat vor wenigen Tagen einen alten Bekannten wieder getroffen. Einen, dem er vor siebenundfünfzig Jahren das Leben gerettet hat.“
Sie spielte nervös mit Sophies Hand.
Sophie schien das Wichtigste im ersten Moment überhört zu haben.
„Du hast jemandem das Leben gerettet? Das ist toll!“
Dann verzog sich ihr Gesicht. „Vor siebenundfünfzig Jahren? Hast du dich da nicht um ein paar Jahre geirrt?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Nein, Sophie. Neunzehnhundertsiebenundfünfzig war das.“
Das Gesicht von Judys Freundin verzog sich noch mehr. „Dann müsstest du ja…“
Sie rechnete. „… mindestens über fünfundsiebzig sein. Hast du einen Jungbrunnen entdeckt?“
Sophie sah von Phillippe zu ihrer Freundin und wieder zu ihm.
Judy lächelte etwas gequält.
„Das ist so nicht falsch, Sophie. Irgendwann in meiner Kindheit ist mein Körper zu einer Art Jungbrunnen geworden.“, erklärte er.
Erneut sah Sophie zwischen ihm und Judy hin und her.
„Warte mal… was… was wollt ihr mir jetzt sagen?“
„Sagt dir Karl der Große etwas, Sophie?“
„Natürlich“, nickte diese. „Der erste große Kaiser des frühen Mittelalters.“
„Dann hast du sicherlich auch schon von Theorien gehört, dass er niemals gelebt hätte. Ich persönlich weiß, dass er gelebt hat.“
„Und woher?“
Phillippe beschloss, dass Sophie selbst darauf kommen sollte.
Aber dies dauerte. Sie sah ihn erst einmal verständnislos an, dann wurden ihre Augen noch größer als eben noch und schließlich schlug sie die Hand vor den Mund.
„Wie alt bist du, Phillippe?“ flüsterte sie fast ängstlich.
„Eintausendzweihundertachtundzwanzig.“
Mit offenem Mund und fassungslosem Gesichtsausdruck schwenkte ihr Kopf zu Judy.
„Und du weißt das?“
Judy nickte. „Ja, Sophie.“
„Und wie… kommst du damit klar?“
„Sophie“, sagte Phillippe weiter, „diese Fähigkeit lässt sich per Beischlaf – wie man früher dazu sagte – übertragen.“
„Über Sex?“, horchte sie.
„Ja, Sophie.“
Ihr Mund blieb offen, als sie auf Judys Bauch sah. „Oh mein Gott!“
Sophie schlug nun ihre beiden Hände vors Gesicht. Eine Minute später schaute sie unter Tränen wieder auf.
„Ihr seid… ich meine ihr könnt... also ihr könnt nicht... sterben?“
„Alterungsbedingt sterben können wir nicht - ja, Sophie, das ist richtig.“, bestätigte Phillippe ihr.
Dann schnappte sie sich das Weinglas und trank es in einem Zug leer. Immer noch rannen ihr Tränen aus den Augen.
„Seid mir nicht böse.“, sagte sie noch, und verließ die Wohnung.
„Sophie!“, rief Judy ihr noch hinterher.
„Lass sie, Cheri. Du hast deine Zeit gebraucht, sie braucht ihre.“
„Ja, du hast Recht.“
Doch Sophie ließ sich erst einmal nicht mehr blicken. Weder in den Kursen, da sie ebenfalls Kunsthistorie studierte, noch im Aikido. Judy versuchte es mehrmals per Handy, aber niemand ging ran.
Und so trainierte Phillippe allein mit den anderen zusammen, Judy schaute ihm zu wie üblich.
Die Woche baute er nach und nach auch das Rechenzentrum zusammen, das nun langsam Form annahm. In der ersten Woche waren es zweihundert Kerne, die er zusammenschloss.
Phillippe merkte nun, dass Judy nicht mehr ganz so fröhlich war und er verbrachte ein wenig mehr Zeit mit ihr.
Auch die zweite Woche verstrich, ohne dass sie Sophie zu Gesicht bekamen, ebenso die dritte. Der November begann. Sophie meldete sich auch nach wie vor über ihr Handy.
Bald waren sogar vier Wochen vergangen. Judys Babybauch war in zwischen unübersehbar.
Und dann am zweiten Novemberwochenende überraschte Phillippe seine Frau mit einem Vorschlag.
„Lass uns an die deutsche Grenze fahren. Ich zeige dir, wo ich geboren wurde.“
Judy lächelte und stimmte erfreut zu. Eine wunderbare wie auch willkommene Abwechslung.
Die Fahrt dauerte insgesamt fünf Stunden, sie passierten nacheinander Belgien und auch kurz Luxemburg.
„Warst du denn schon einmal wieder hier, Honey?“
Er nickte. „Ja, zwei mal. Vor knapp zweihundert beziehungsweise vor etwa fünfhundert Jahren. Aber es dürfte sich wieder viel geändert haben. Ich hoffe, nur die Landschaften nicht allzu sehr. Sonst erkenne ich es nicht mehr wieder.“
Schließlich hatten sie Deutschland erreicht und auch Prüm.
„Ich spreche kein Deutsch, Honey. Du?“
Phillippe nickte. „Sogar relativ akzentfrei.“
„So, wir müssen jetzt noch zehn Minuten südostwärts.“, überlegte er. „Und dann laufen.“
Es dauerte noch etwa fünfzehn Minuten, bis er seinen Peugeot abstellte – an einer Gaststätte. Judy war trotz ihrer Schwangerschaft sehr schnell und sie kamen zügig voran.
Dann grinste Phillippe.
„Erkennst du etwas wieder?“
Er nickte. „Wir sind gleich bei einer kleinen Talmulde zwischen drei Hügeln. Hier habe ich Theodrada und auch Hiltrud damals spielen sehen.“
„Wen?“, horchte Judy neugierig.
„Theodrada und Hiltrud. Zwei uneheliche Kinder Karls des Großen. Das muss zwischen siebenhundertsechsundneunzig und –achtundneunzig gewesen sein. Hiltrud ist ja bereits achthundert gestorben. Aber das war damals nichts Ungewöhnliches.“
„Und wo bist du geboren, Honey?“
„Gleich, Cheri. Dazu müssen wir noch einmal zehn Minuten laufen.“
Sie liefen nun an einer Waldgrenze vorbei, dann stoppte Phillippe. Er hob seine Arme und prüfte mehrmals Richtungen.
„Das ist gar nicht so einfach. Gewisse Gegebenheiten verändern sich einfach zu schnell.“
Aber dann schien er es zu haben.
„Hier, Honey. Hier stand mein Geburtshaus.“
Judy grinste. Die Landstraße ging gerade einmal siebzig Meter von ihnen – zwanzig Meter auf der anderen Seite begann der Wald.
Dann umarmte sie ihn und begann ihn leidenschaftlich zu küssen.
„Ich liebe dich über alles, Phillippe.“
„Ich liebe dich auch, Judy.“
Nach ein paar Minuten löste sie sich wieder von ihm und umfasste seine Hand, umschloss sie fest.
„Wir können sogar schauen, ob der alte Weiher noch steht.“, schlug er vor.
„Na dann“, sagte sie und zog ihn fort.
Noch einmal liefen sie zwanzig Minuten, dann lachte Phillippe. „Er steht noch, ich kann ihn direkt fühlen.“
„Und ich rieche ihn.“
Und tatsächlich – zwei Minuten später waren sie an seinem Ufer und hörten Frösche quaken.
Zuerst machten sie eine Pause und genossen die Natur, dann umrundeten sie langsam das Wassergrundstück und liefen anschließend zum Auto zurück und aßen zu Mittag.
„Das war wunderschön, Cheri. Eine sehr schöne Abwechslung.“
Phillippe nickte. „Ich weiß, dass du sie vermisst.“
Auch Judy nickte. Stumm.
Nach dem späten Mittagessen fuhren sie umgehend wieder zurück.
Es war bereits um kurz vor acht Uhr, als sie wieder ihr Apartment betraten. Es war auch schon dunkel und so sah nicht einmal Phillippe, dass ein weiterer Peugeot ein paar Meter weiter parkte.
Aber es klingelte, kaum, dass sie angekommen waren.
Phillippe öffnete schnell die Tür – und grinste, als der den Gast sah.
„Cheri?“
„Ja, Honey?“
„Wir haben Besuch.“
Als Judy den Gast sah, schlug sie die Hände vors Gesicht und – lief direkt in die Sophie Arme.
„Du hast mir gefehlt, Judy!“
„Du hast mir auch gefehlt, Sophie.“
Freudentränen rannen aus allen vier Augen. Hinterher schnäuzten beide in Taschentücher und lachten anschließend. Und umarmten sich wieder.
Dann war auch Phillippe dran, und gab Sophie rechts und links ein Küsschen.
Sie setzten sich zusammen. Judy und Sophie strahlten um die Wette.
„Sophie – ein Glas Wein?“
„Sehr gern, Phillippe.“
„Wie geht es dir, Liebes?“, horchte Judy und strich Sophie durchs Haar.
„Ganz gut, danke, Schatz. Auch wenn ihr mir vielleicht böse seid, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich habe erstmal über die gesamte Situation nachdenken müssen.“
Judy schüttelte den Kopf. „Du musst dich nicht entschuldigen. Mir ist es nicht anders ergangen. Wir hatten auch lange Zeit überlegt, es dir zu sagen, aber ich wollte, dass zwischen uns keine Geheimnisse sind. Auch wenn es so verrückt ist.“
Sophie, die ein Jahr älter als Judy war, umarmte ihre Freundin und küsste sie auf die Wange.
„Ich hab dich viel zu gern, Judy. Und ich habe dich so sehr vermisst. Und ich bin sehr froh über deine Ehrlichkeit.“
Dann wandte sie sich an Phillippe, der neben seiner Frau saß und auch sehr erleichtert war.
„Aber jetzt erzähl mir doch mal, wie du da rein geraten bist?“
Phillippe zuckte mit den Schultern. „Damit Judy einen ordentlichen Ehemann abbekommt.“
Sophie und Judy lachten.
„Nein, im Ernst – der Grund ist mir bis heute schleierhaft, Sophie. Unter normalen Umständen wäre ich bereits in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts gestorben. Aber so – weißt du, ich habe erstmals bei einer Eberjagd feststellen müssen, dass ich anders bin. Ich hatte eine schwere Bauchverletzung, weil ich zu unvorsichtig war. Und eine Minute später war alles wieder heil. Man kommt sogar irgendwann auf die Idee, dass man von Teufel besessen sein könnte. Ich habe schließlich erst im Alter von siebzig Jahren lesen gelernt. Und auch schreiben.“
„Und an welchem Tag bist du geboren?“
„Das weiß er nicht.“, sagte Judy für ihn. „Wir haben den Tag meiner Einweihung als seinen Geburtstag genommen.“
Sie streichelte Phillipps Hand.
„Und für dich ist es ok, dass du sehr lange leben wirst, Schatz?“, horchte Sophie.
„Inzwischen ja. Hauptsächlich, weil Phillippe die Liebe meines Lebens ist.“
Sophie grinste. „Ach ist das schön!“
„Der andere Grund ist nicht ganz so schön. Willst du es ihr sagen, Honey?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Mach du es ruhig. Ich habe es oft genug getan.“
Judy schmunzelte, wurde dann aber wieder ernst.
„Ja, Sophie, es geht darum, dass ich nicht Phillippes erste Frau bin. Du wirst gleich aus allen Wolken fallen, wenn du erfährst, wer seine erste Frau war.“
„Wer?“, horchte Sophie neugierig.
„Lydia ‚Le Chat’ van Bourg“
Erneut wurden Sophies Augen übergroß. „Ist das dein Ernst?“
Phillippe nickte stumm.
„Und dann ist sie auch unsterblich?“
„Ja, Sophie.“, bestätigte Judy. „Phillippe hat einen Sohn mit ihr, Raul. Sie hat seine Unsterblichkeit erlangt und deswegen auch Dutzende Attentate überlebt. Weil sie nicht sterben kann.“
„Ach du heilige Scheiße!!“
„Phillippe und ich sind die Einzigen, die Lydia irgendwann aufhalten können.“
„Weil sie sonst die Weltherrschaft an sich reißen wird.“, fügte er hinzu.
„Bitte schnell Themenwechsel.“, bat Sophie. „Aber das Einzige, was nicht so fair ist, ist, dass du so jung bleiben wirst und ich werde älter.“
Judy nickte. „Ja, das ist richtig. Wir sind heute nach Prüm gefahren, dort wo Phillippe geboren ist. Er hat mir die Stelle gezeigt, wo sein Geburtshaus stand. Und haben wir noch einen Spaziergang zu einem alten Weiher unternommen, der offensichtlich die Jahrhunderte überdauert hat.“
„Sag mal, Phillippe, dann musst du doch Wahnsinnssachen erlebt haben.“, meinte Sophie. „Das gesamte Mittelalter bis in die Moderne hinein.“
„So ist es. Teilweise ist es für mich auch ein Wunder, dass selbst ich das Mittelalter überlebt habe. Genauso gut hätte ich damals enthauptet werden können und dann wäre es auch für mich zu Ende gewesen. Zumindest habe ich mich erfolgreich vor den Kreuzzügen drücken können. Ich bin damals in einer Abtei gewesen, in der Nähe von Orleans.“
Sophie schüttelte den Kopf. „Das ist Wahnsinn. Dann bist du ja ein richtiger Zeitzeuge.“
Sie nahm wieder einen Schluck Wein.
Judy fuhr ihrer Freundin wieder durchs Haar.
„Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“
Sophie nahm Judys Hand und drückte sie an ihr Herz.
„Ich bin auch wieder im Training.“
„Das ist schön!“
Sophie fuhr vorsichtig über Judys Bauch. „Was wird es denn?“
„Ein Mädchen“, sagte Judy. „Aber wir haben uns noch nicht für einen Namen entschieden.“
„Judy und ich haben drei Namen vorbereitet“, schmunzelte Phillippe. „Lea, Sophie oder Aitana.“
Sophie schien sich zu freuen, dass ihr Name dabei war.
„Aitana ist spanisch?“, horchte sie, Phillippe nickte.
„Ich könnte doch ihre Patentante werden!“, schlug Sophie vor.
„Das ist eine Superidee!“, sagte Judy erfreut. „Du wirst ihre Patentante, Sophie!“
„Ja, wenigstens für die ersten fünfzig Jahre.“
Dann blickte Sophie überlegend zwischen Judys Babybauch und Phillippe hin und her.
„Sag mal wie viel von Euch gibt es da eigentlich?“, wollte sie wissen. „Du könntest doch Dutzende, ja Hunderte von Frauen gehabt haben? Ich meine – eintausendzweihundert Jahre sind eine lange Zeit.“
„Ich bin für eine verantwortlich. Lydia. Sie hat Raul, ihren Sohn. Wir vermuten noch mindestens drei oder gar noch mehr Frauen, die er hat.“
„Und dieser Raul ist auch dein Sohn?“
Phillippe nickte.
„Und was für ein Typ ist das?“
„Genauso mörderisch wie seine Mutter.“, erklärte ihr Judy. „Wir hatten im Sommer Besuch von ihr. Er wurde handgreiflich. Aber das habe ich dir glaube ich schon erzählt.“
Sophie schlug eine Hand vor den Mund. „Das war der, von dem du erzählt hast, ihn auf die Bretter geschickt zu haben? Cool. Das siehst du mal, wofür das Training gut ist.“
„Und seine Mutter – ist sie wirklich so wahnsinnig?“
„Glaub mir, Sophie“, sagte Judy, die Hand ihrer Freundin tätschelnd, „in Lydias Gegenwart gefriert dir das Blut in den Adern.“
Verstört sah sie ihre Freundin an.
„Ok, Themenwechsel.“, sagte sie schnell.
„Gern.“
„Und wer weiß jetzt alles, dass ihr zwei so… seid wie ihr seid?“
„Von Lydia und Raul abgesehen. Wir drei und Sebastien, ein enger Freund und Mitarbeiter von mir.“
„An eurer Stelle würde ich es auch dabei belassen.“
Dann sah sie zu Judy. „Deine Eltern?“
Phillippes Frau schüttelte den Kopf. „Sie würden es nicht verstehen. Die Welt ist ohnehin verrückt genug. Da werden eigentlich nicht auch noch Unsterbliche gebraucht.“
„Ok, ich meine“, saget Judy weiter, „meine Eltern sind schon sehr modern – aber das… das würde ihre Vorstellungen bei weitem übersteigen.“
„Lass es, Schatz.“, sagte Sophie.
„Wir haben uns auch einige Dinge besorgt, um unserem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Deswegen haben wir auch das Mikroskop gekauft. Aber ich will nicht auf Einzelheiten eingehen. Die verstehen selbst wir ohnehin noch zu wenig.“
„Aber wir bauen unser eigenes Rechenzentrum auf.“, erklärte Phillippe.
„Cool! Wie schnell soll das werden?“
„Zweitausend Prozessoren parallel mit jeweils etwa fünf GigaHertz.“
Sophie staunte wieder. „Ist ja irre!“
Dann lachte sie. „Du hast dann zwanzig Teraflops? Wahnsinn!“
Nun war Phillippe der Neugierige. „Was hast du eigentlich vorher gemacht, Sophie? Also vor Kunstgeschichte?“
„IT-Architektur und –Netzwerke.“
„Und wieso bist du nicht dabei geblieben?“
„Ich möchte mir noch eine zweite Schiene aufbauen. Aber ich weiß auch noch nicht, ob ich das durch mache. Eventuell breche ich nach einem Jahr ab. Das weiß ich noch nicht.“
„Du könntest doch zu uns kommen und dich um unser Netzwerk kümmern.“, schlug Phillippe vor.
Judy sah ihn überrascht an, blickte dann zu ihrer Freundin.
„Mein Honey hat Recht. Mach doch unser Netzwerk. Aber was ist mit Sebastien, Honey?“
„Sebastien kann nicht den gesamten Tag. Aber du könntest dann Sophie zeigen, wie gut du schon einzelne Schlösser knacken kannst.“
Judy lachte laut los.
„Deine Frau hat es mir schon erzählt. Dass sie inzwischen jedes Buntbartschloss aufkriegt. Und was macht ihr sonst so?“
„Mein Honey kümmert sich um die Naturwissenschaften. Biologie, Physik und inzwischen auch Mathematik.“
„Also ich komme sehr gern!“, gestand Sophie. „Dann mache ich Euer Netzwerk. Dann sehen wir uns ja dann bald jeden zweiten Tag!“
Judy strahlte. „Na das ist doch super!“
„Natürlich zeigen wir uns dann auch erkenntlich, Sophie. Da du wahrscheinlich sogar mehr drauf hast als mein Kumpel Sebastien, können wir dann auch so was um die drei- bis fünftausend im Monat machen.“
Judy nickte verlegen. „Glaube mir, Liebes, wir haben genug!“
Sophies Augen leuchteten. „Phantastisch! Da freue ich mich sehr!“
Sie sah auf die Uhr. „Ich muss langsam.“
Später am Abend lagen Phillippe und Judy wie gewohnt im Bett – seine Frau machte einen quietschvergnügten Eindruck.
„Na Cheri, bist du wieder selig?“, fragte er und küsste sie auf die Stirn.
Judy nickte mit ihren weißen Zähnen.
„Ich habe den wunderbarsten Mann der Welt und eine liebe Freundin. Ich bin die glücklichste Frau der Welt.“
„Hat Sophie denn einen Freund? Ich habe nie etwas in der Beziehung gehört.“
„Sie ist seit zwei Jahren single. Aber suchen tut sie schon.“
Während der nächsten und auch der letzten Wochen des Jahres zweitausendvierzehn richteten Sophie und Sebastien zusammen das neue Netzwerk ein, das nun mit zweitausend parallel laufenden Prozessoren schnell genug war, um zumindest erst einmal die Genetik-Berechnung in knapp zwölf Monaten zu schaffen. Aber Phillippe vermutete, dass dies erst der Anfang war.
Und auch Sophie begann nun vermehrt, in das Netzwerk von Lydia einzudringen und dort Spione auszusetzen, die ihnen helfen sollten, hinter die Struktur von Lydias Unternehmen zu gelangen.
Phillippe hatte inzwischen auch begonnen, wichtige Elemente und Daten aus den Physik-, Biologie- und Mathematikbüchern einzuscannen, sie zu kategorisieren und somit schneller abrufbar zu machen.
Die Temperaturen fielen bald auf den Null-Punkt und auf Paris legte sich eine erste weiße Decke. Da auch des Nachts inzwischen Frost herrschte, wurden die Straßen spiegelglatt und eines Abends erfuhr Judy nun auch zum ersten Mal den Vorzug ihrer von Phillippe erhaltenen Fähigkeit.
Beim Überqueren der Straße passte sie nicht auf und fiel so unglücklich, dass ihr Genick brach. Sophie, die dabei war, erlitt einen Schock, doch noch ehe eine Minute vorüber war, schnappte Judy wieder nach Luft und fand sich in Phillippes Armen wieder.
„Willkommen zurück, Cheri.“
Da Sophie für den Rest des Abends deutlich geschockter war als Judy selbst, trank sie erst einmal ein Glas Wein aus und ließ sich von Phillippe nachfüllen.
„Wie ist das passiert?“, überlegte Judy. „Haben diese seltsamen Basenpaare, die wir haben, dafür gesorgt?“
Sophie lag tränennass auf der Couch und ließ ein paar Streicheleinheiten von Judy über sich ergehen.
Phillippe nickte. „Zu neunundneunzig Prozent – ja. Ich vermute, dass sie unabhängig von den Befehlen des Gehirns arbeiten und dich repariert haben.“
Judy fasste vorsichtig an ihren Hals, der natürlich wieder in Ordnung war.
„Übermorgen haben wir ein neues Jahr. Dann wird unsere Tochter geboren und vermutlich werden noch andere verrückte und weniger verrückte Dinge passieren.“
„Wir werden unser neues Haus bauen, Cheri.“
Phillippe sah seine Frau an, die nun fast im siebten Monat war.
„Warten wir ab, wie die Entwürfe aussehen, Honey.“
Er beugte sich zu ihr. „Und dir geht’s wieder gut, Cheri?“
Als Antwort küsste sie ihn fest.
„Im Januar hast du ja Geburtstag.“
Judy würde neunundzwanzig werden.
„Ja, und dabei habe ich noch Jahrhunderte vor mir. Irgendwie ist diese Vorstellung abstrus.“
Am nächsten Abend feierten sie im Kreis von ein paar weiteren Freunden, auch Judys Eltern waren gekommen, die nun neugierig auf den Stand von Judys Schwangerschaft waren.
Elizabeth Broker erzählte ihrer Tochter nun wieder stolz, wie diese selbst vor nun bald neunundzwanzig Jahren auf die Welt gekommen war.
Dann war es Mitternacht und Judy erlaubte sich ein paar wenige Schluck Sekt. Dann kam der Wechsel und Judys und Phillippes Neujahrskuss führte beide in das neue Jahr.
Phillippe horchte dann auch etwas in Sebastien hinein, der mit Sophie einen höflichen Recht-Links-Kuss ausgetauscht hatte.
„Aber sonst“, gestand Sebastien, „ist sie nicht mein Typ und ich bin nicht ihrer.“
Phillippe zuckte mit den Schultern. „Auch wenn ich es schade finde, ist es ok. Schließlich muss es ja bei uns noch zwei Normalos geben.“
Die Freunde grinsten sich an.
„Was ist denn so dein Typ, Sebastien?“
Sein Freund drehte nachdenklich sein Sektglas.
„Diese eine Neuseeländerin, die in Hollywood ist.“
„Was ist mit der?“, horchte Judy, die hin zu gekommen war.
„Mein Typ“, sagte Sebastien kurz.
Doch dass das neue Jahr nicht nur Positives bringen sollte, zeigte sich leider sehr bald.
Schon in der ersten Woche eröffnete Sebastien ihm, dass er in den letzten Wochen des Öfteren beim Arzt gewesen war.
„Es ist hoffentlich nichts Ernstes?“
Sein Freund schwieg. Etwas zu lange.
„Sebastien?“
„Rückenmarkkrebs.“
Phillippe wurde blass. Er schlug zum ersten Mal seit einer Ewigkeit vor Entsetzen und Fassungslosigkeit die Hand vor den Mund.
„Was?!“
Sebastien nickte stumm.
„Ab nächster Woche muss ich das Bett hüten.“
Die Tür öffnete sich und Judy kam herein, die sofort merkte, dass etwas nicht stimmte.
Sie küsste ihn und fragte sofort: „Was ist los?“
„Sebastien – sag mir um Himmels Willen, dass du auf einer der Wartelisten bist!“
„Seit einer Woche, ja.“
„Sagt mir, was los ist!“, forderte Judy.
„Ich habe Krebs, Judy.“, erwiderte Sebastían.
„Oh Gott!“, entfuhr es ihr und auch sie schlug die Hände vor den Mund.
„Und wie… wie äußert sich das?“
„Im Moment nur Taubheit in den Beinen des Öfteren.“
Judys Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich sagte doch, Phillippe, dass du eines Tages an meinem Grab stehen wirst. Ihr beide.“
„Das kommt gar nicht in Frage!“, sagte Judy. „Wir werden dich nicht sterben lassen. Wir haben Geld genug, um dir die beste Behandlung zu ermöglichen!“
Phillippe nickte vehement. „Judy hat absolut Recht. Wir werden dir hier eine Krankenstation herrichten, ein Spezialist wird ein bis zwei Mal die Woche kommen und deine Daten werden an ein Krankenhaus übertragen.“
„Ja, Sebastien.“, stimmte Judy zu. „Haben die Ärzte schon etwas Genaueres gesagt, wie lange du noch hast?“
„Nur eine Schätzung, die nicht grober sein kann. Zwei bis sieben Jahre.“
Phillippe stemmte die Hände in die Hüften und dachte nach. Wie konnten sie Sebastien noch helfen?
„Gibt es nicht seit zwei Jahren die Behandlung mit Nano-Bots?“, überlegte Judy.
Phillippe lief unruhig durch das Zimmer. Wieder liefen Hunderte von Gedanken durch seinen Kopf. Hatte seine Frau Recht? Konnte eine Behandlung mit Nano-Bots helfen?
„Wir brauchen erst einmal deine Untersuchungsergebnisse. Ohne die wissen wir gar nichts.“
„Stimmt“, musste Judy zugeben. „Wie alt bist du, Sebastien?“
„Achtunddreißig.“
Judy lief zu ihm und drückte seine Hand.
„Wir helfen dir, Sebastien!“
Dankbar nickte er.
„Ich glaube auch, wenn mir jemand helfen kann, dann ihr.“
Phillippe lief an eines der fünf Terminals, das Sophie eingerichtet hatte.
„Ich werde einem Krankenhaus einen Auftrag erteilen. Und du, Sebastien, legst dich auf der Stelle auf die Couch. Wir wollen das Schicksal nicht noch herausfordern.“
Er stand wieder auf. „Des Weiteren werde ich eine Videoschaltung auf Arbeit machen. Und solltest du irgendwann nicht mehr laufen können…“
„…werden Phillippe und ich und eventuell auch Sophie dich abwechselnd versorgen.“
„Was ist mit mir?“, hörten sie Sophies Stimme hinter sich. Sie war gerade gekommen. „He ihr drei!“
„Sebastien ist schwerkrank, Sophie.“
Sie unterrichteten sie kurz und Judys Freundin wurde blass.
In den nächsten Tagen wurden ein Krankenbett und mehrere medizinische Geräte herangeschafft und installiert, auf Wunsch hin wurde Sebastien ein Terminal direkt am Krankenbett eingerichtet.
„Ich werde mich vorerst nur noch auf Biologie beschränken mit dem Studium“, sagte Phillippe leise zu seiner Frau. „Vielleicht kann ich die Jahre überlisten und ihm sogar selbst helfen.“
Er fuhr sanft über ihren Babybauch.
„Kann ich dir irgendwie helfen, Honey?“
Er küsste ihre Wange.
„Das tust du doch bereits. Du gibst mir so viel Kraft, das ahnst du gar nicht.“
Judy nickte. „Wir müssen diese Kraft an Sebstien weitergeben.“
Nach einer Woche kam die nächste Hiobsbotschaft. Sebastien war gerade einmal auf Position einhundertsechsundachtzig.
Während sich Phillippes Augen mit Tränen füllten, hörte er Sebastien auf der Tastatur arbeiten – und auch pfeifen.
Er erhob sich und setzte sich auf das Krankenbett des Freundes.
„Ich freue mich, dass du so gute Laune hast.“
„Ich bin bei euch in den besten Händen, Phillippe.“
Phillippe grinste.
„Morgen kommen die Unterlagen und auch erstmals ein Spezialist.“
„Wird schon werden, mein Bester. Und Phillippe – danke!“
Dass die Herrichtung zu Sebastiens Vollversorgung im ersten Monat an die vierhunderttausend Euro kostete, verschwieg er lieber. Er wollte seinen Freund nicht beunruhigen. Aber Judy hatte Recht. Bei ihrem Vermögen, das Phillippe und seine Frau zusammen hatten, war das eine Kleinigkeit. Phillippes Einkommen belief sich auf zwanzig bis zweiundzwanzig Millionen Euro im Monat aufgrund seiner Anlagen, die er vor wenigen Jahren getätigt hatte. Womöglich war er eines Tages so vermögend wie Lydia, aber daran wollte er gar nicht denken.
Am nächsten Vormittag erschien nun Frau Prof. Dr. Margaret Coens, eine Expertin für Rückenkrankheiten. Sie brachte auch die Unterlagen mit von Sebastiens Untersuchung.
„Was können Sie uns sagen, Doctor?“
„Ja, es ist Rückenmarkmarkkrebs. Allerdings noch im Anfangsstadium.“
Phillippe hörte ihr zu, einiges war einleuchtend, andere Dinge verstand er nicht.
„Ich würde Sie so schnell wie möglich auf die Liste setzen, M. LeMónt.“
„Das bin ich schon, Doctor.“, sagte Sebastien. „Aber an Position einhundertsechsundachtzig.“
„Das könnte ein Problem werden. Pro Jahr rutscht man höchstens um fünfzig Positionen.“
„Doc“, schaltete sich Phillippe wieder ein, „meine Frau und ich haben von der so genannten Nanobot-Therapie gehört. Können Sie uns dazu etwas sagen?“
Die Doctorin, die Anfang fünfzig war, sah ihn etwas überrascht an.
„Sie sind gut informiert, Monsieur. Nun, die Nanobot-Therapie gibt es erst seit zwei Jahren. Sie ist eigentlich noch nicht ausgetestet. Sie ist zudem sehr teuer und wir wissen auch nicht, ob es nicht doch Nebenwirkungen geben kann.“
„Na schön. Nehmen wir an, sie könnte funktionieren. Welche Aussichten hätte M. LeMónt?“
„Diese Therapie“, erklärte die Ärztin, „müsste einmal pro Woche durchgeführt werden. Die Nanobots würden ihm per Spritze injiziert werden. Außerdem würde eine Art Emitter auf die Oberfläche seiner Haut gepflanzt werden, der dafür sorgt, dass alle Nanobots wieder eingesammelt werden nach getaner Arbeit.“
„Ach die Dinger bleiben nicht im Körper?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Monsieur. Im derzeitigen Stand der Technik noch nicht. In zehn bis fünfzehn Jahren können wir vielleicht soweit sein. Momentan müssen die Bots nach Erledigung der Arbeit zurück, damit ihre Energiezellen wieder aufgeladen und auch die Programmierung überprüft werden kann. Die Bots selbst suchen im Körper nach den Krebszellen und beschießen sie, ohne dabei normales Körpergewebe zu zerstören. Auf diese Weise kann das Wachstum durchaus je nachdem bis zu sechzig oder in Ausnahmefällen bis zu achtzig Prozent verlangsamt werden.“
Phillippe staunte. Das hörte sich nicht schlecht an.
„Und wie viele Bots werden eingesetzt?“
„Eintausend, Monsieur.“
„Ich verstehe. Und was kostet der Spaß?“, horchte Phillippe.
„Pro Bot pro Einsatz einhundert Euro. Sie müssen wissen, ob Sie sich das leisten wollen für Ihren Freund.“
Die Ärztin schien zu ahnen, wie bei ihnen die finanziellen Verhältnisse verteilt waren.
„Ich hätte nichts dagegen“, sagte Sebastien. „Das ist deine Entscheidung, Phillippe.“
Phillippe zwinkerte seinem kranken Freund zu. „Ich habe mich bereits entschieden. Wir machen es.“
Dr. Coens nickte Sebastien zu. „Sie können stolz auf Ihren Freund sein. So etwas macht nicht jeder.“
Phillippe führte die Ärztin aus dem Krankenbereich.
„In Ordnung, Monsieur. Ich komme zwei Mal die Woche, beim zweiten Mal schicken wir die Bots los. Ich selbst bekomme pro Einsatz eintausend Euro. Sind Sie damit einverstanden?“
Phillippe nickte. Selbstverständlich war er einverstanden. Er begleitete die Ärztin noch hinaus.
„Das mit den Bots klappt also?“, horchte Judy am Abend erfreut.
„In der Theorie ja“, bestätigte ihr Phillippe. „Wir wissen nur noch nicht, wie sie tatsächlich arbeiten.“
„Wenn es klappt, können wir Sebastien noch mehrere Jahre zusätzlich schenken.“
Und so geschah es während der nächsten vier Wochen, achtmal kam die Spezialistin, viermal wurden die Nanobots losgeschickt und Phillippe schaute jedesmal interessiert wie neugierig zu.
Der Februar hatte begonnen und eines abends saß Judy surfend vor dem PC, während Phillippe über einen Biologiebuch hockte.
„Honey?“, horchte sie.
„Hm?“, eriwderte er und sah zu ihr.
„Sagt dir ein gewisser Paul van Hyst etwas?“
Phillippe überlegte kurz, dann nickte er. „Ja. Das ist wenn ich mich nicht irre, eine Gruppe von Wissenschaftlern, die ein bis zwei Mal pro Jahrzehnt veröffentlichen.“
„Eine Gruppe von Wissenschaftlern sagst du? Das hört sich aber nicht so an.“
„Muss es aber. Diese Gruppe veröffentlicht schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts historisch-wissenschaftliche Beiträge. Ein einzelner Mann oder Mensch könnte das nicht, ohne zu sein wie wir. Was haben sie denn geschrieben?“
Judy begann ihm vorzulesen und Phillippe legte seinen Kopf in den Nacken und lauschte.
„Das ist höchstselten. Das sind teils Informationen, die die Wenigsten wissen. Sogar noch Informationen, die tatsächlich stimmen. Aber du hast Recht. Das hört sich nach ausschließlich nach einer Person an.“
„Vielleicht ein weiterer Nicht-Sterblicher, von dem du nichts weisst, Honey?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Zugegeben, ich will nichts ausschließen, aber ich halte dies für extrem unwahrscheinlich.“
„Es könnte ein Abkömmling von Lydia sein.“, überlegte seine Frau.
Vehement schüttelte Phillippe den Kopf. „Ausgeschlossen, bei Lydia hätte ich es gespürt, genauso wie sie dich gespürt hat damals.“
Judy zuckte die Schultern. „Laß ihn uns doch anhören, diesen ominösen Paul van Hyst.“
Mit zusammengekniffenen Augen musterte Phillippe seine Frau. „Ok, warum nicht.“
„Dann schicken wir ihm eine Mail.“
Gesagt – getan. Es dauerte jedoch noch eine Woche, bis sie Antwort erhielten.
Mit einigen Zögern komme ich Ihrem Wunsch auf ein Treffen entgegen, schrieb er.
Und so verabschiedeten sie sich am zweiten Februarwochenende 2015 von Sebastien und fuhren zweihundert Kilometer Richtung Nordwest.
Ein kalter Wind blies ihnen entgegen, als sie den Wagen verließen, dann hatten sie aber das mittelgroße Gebäude schon betreten. Sie liefen am Empfang vorbei und nahmen den Aufzug, der sie fünf Etagen nach unten fuhr,
Ein größerer, leicht abgedunkelter Raum erwartete sie und auf den ersten Blick sahen sie noch niemanden, Phillippe konnte aber erkennen, dass aus dem unteren Bereich, der über Stufen erreichbar war, ein weiterer Gang nach hinten weg führte, der gut und gerne anderthalb Meter breit sein mochte.
„Paul van Hyst?“, fragte er in den Raum hinein.
„Ja. Ich bin hier.“, hörte er eine Stimme, bei der aber nicht erkennbar war, woher sie zu kam.
„Danke, dass Sie uns empfangen, Monsieur.“
„Oh – bitte“
Diese Stimme! In Phillippes Kopf zog es plötzlich. Wieso kam ihm diese Stimme nur so bekannt vor?
„Wir haben Ihren neuesten Artikel gelesen, Monsieur“, sagte nun Judy. „Mein Mann sagt, dass Sie Informationen veröffentlicht haben, die eigentlich fast niemand wissen kann.“
Nach wie vor sahen sie ihren Gastgeber nicht. Er verbarg sich noch im Dunkeln.
„So? Welche denn?“
„Die Namen dreier Kinder, die früh verstorben sind und ihre genauen Todesumstände. Diese Namen sind bislang niemandem bekannt gewesen.“, erklärte Phillippe.
„Und woher wissen Sie sie dann, Monsieur Soiret?“
Phillippe atmete tief durch. Sein Instinkt hatte inzwischen angeschlagen. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Ich habe meine Quellen, Monsieur van Hyst.“
„Die habe ich ebenfalls.“
„Waren Sie denn damals dabei?“, horchte Judy.
Der Unbekannte lachte. „Eine ungewöhnliche wie auch interessante Frage, junge Dame.“
„Genauso wie Ihre Stimme, Monsieur. Sie kommt mir bekannt vor.“, erklärte Phillippe.
„Das ist durchaus möglich, Monsieur.“
„Wer sind Sie – warum zeigen Sie sich nicht?“
„Ich zeige mich noch früh genug.“
Wieder kniff Phillippe seine Augen zusammen. Diese Stimme!! Diese Art zu sprechen!! Erinnerungen aus ferner Vergangenheit tauchten auf.
„Wer sind Sie??“
„Es ist in der Tat viel Zeit vergangen, Phillippe Soiret de Camarque. Oder sollte ich Sie besser... Phillippe de Boutricourt nennen?“
Aus seinen Augen traten vor Überraschung und auch Fassungslosigkeit Tränen aus.
„Woher wissen Sie diesen Namen??“
Er spürte Judys Hand an seiner aber auch dies konnte seine Überraschung kaum lindern.
„Das ist mein Geburtsname. Den niemand ausser mir und meiner Frau mehr kennt.“
„Ihre Mutter war Emilie Deschenne?“
Die nächste Überraschung. Phillippe sank auf die Knie.
„Wer sind Sie – zeigen Sie sich endlich!!“
Wem gehörte diese Stimme??? Wer war dieser Mann???
„Also gut. Geboren wurde ich unter dem Namen Erouan von Babel. Seit damals habe ich viele Namen gehabt. Genauso wie Sie.“
Schritte. Der Mann schien auf sie zuzukommen.
„Bis ich dann den Vornamen Paul benutzte.“
Nun trat er endlich ans Licht und Phillippe – sah in das Gesicht seines Vaters!!
„Paul de Boutricourt.“
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war Phillippe zu keiner Regung fähig. Er schien wie zu einer Salzsäule erstarrt.
„Hallo Phillippe.“
„Dein Vater??“
Paul de Boutricourt – oder eigentlich ja Paul van Hyst – kam weiter auf sie zu.
Nur schwer gelang es Philippe, sich von dieser größten aller Überraschungen zu lösen.
„Ich kann mir denken, dass du all diese Jahre geglaubt hattest, der älteste Mensch auf dieser Welt zu sein.“
Er lächelte leicht, während Phillippe seinen Vater immer noch anstarrte wie ein Weltwunder.
„Das ist nicht möglich!“, entfuhr es ihm.
„Nun, mein Sohn, genauso möglich, wie die Tatsache, dass du lebendig vor mir stehst. Aufgrund desselben – nennen wir es vorerst Wunders – wie ich selbst.“
Nun endlich hatte sich Phillippe wieder einigermaßen gefangen. Er lief seinem Vater auf der Treppe entgegen und umarmte den dunkelhaarigen Mann.
„Ich freue mich über deine Begrüßung, Phillippe, ich hatte es mir schon schlimmer vorgestellt.“
Phillippe zuckte die Schultern. „Du bist mein Vater und hast dir nie etwas zu schulden kommen lassen. Und dass du dich verborgen hast – dafür hast du sicherlich deine Gründe.“
Phillippes Vater nickte. „Genauso wie du auch. Ich freue mich, dass du für dein Alter genügend Weisheit und Erfahrung angesammelt hast.“
Phillippe lachte kraftlos. „Offensichtlich nicht genug. Ich habe ein unschönes Erbe, das ich, wenn auch nur indirekt, mit mir herumschleppe.“
Paul de Boutricourt nickte. „Ja, ich weiss von Lydia.“
„Wie?“, horchte Judy.
„Ich bin ihr während der letzten achthundert Jahre dreimal begegnet. Und habe sie einmal belauscht, wo sie im Vollrausch über dich gelästert hat. Seitdem war mir alles klar.“
Sein Vater schien die fragenden Gesichter von Phillippe und Judy zu sehen.
„Phillippe – Judy – ich weiss, dass ihr viele Fragen habt. Und ich will sie Euch beantworten! Kommt, wir wollen zu Mittag essen. Ihr müsst hungrig sein.“
Sie folgten dem Gang, aus dem Phillippes Vater wohl gekommen war und erreichten dann einen anderen fast noch größeren Raum als eben noch, der mit vielen seltsamen Schmuckstücken verziert war.
Judy und Phillippe staunten. Wie alt mochten diese Dinge sein, die hier standen? Uralte Töpfergegenstände und andere Dinge, denen man zwar durchaus das Alter ansah, man konnte aber genauso gut erkennen, dass man sich große Mühe gegeben hat, sie zu restaurieren. Das waren Gegenstände aus der Bronze-, wenn nicht sogar der Kupferzeit.
„Also als angehende Kunsthistorikern glaube ich sagen zu können, woher das stammt.“
„Ich bin gespannt, Judy. Bitte sagen Sie mir, was Sie glauben.“
„Auf den ersten Blick mag es persisch erscheinen, aber wenn man genau hinsieht – mesopotamisch. Ich bin mir nur noch nicht schlüssig ob akkadisch oder gar...“
Judy sah zu Phillippe.
„...sumerisch.“
Fassungslos sah Phillippe, der seiner Frau nicht widersprechen konnte oder wollte, seinen Vater an. Dieser verbeugte sich vor Judy.
„Junge Dame – ich bin sehr erfreut über Ihre Bewertung. Phillippe, ich mag im frühen Mittelalter bei Karl dem Großen in Diensten als Heerführer gewesen sein, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits viele Jahre gelebt. Sehr viele.“
Paul de Boutricourt lief zu seinem Sohn, der ihn mit erneut offenem Mund ansah.
„Wie alt bist du, Vater?“, fragte er mit fast zitternder Stimme.
„Junge Dame, mein Sohn. Durch ein Wunder steht der letzte Sumerer vor Euch. Ich habe vorhin gesagt, ich wurde unter dem Namen Erouan von Babel geboren, aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Mein tatsächlicher Geburtsname ist Er-Rouanin. Geboren in Uruk, einem Stadtstaat, der zu meiner Geburt gerade einmal zwölftausend Einwohner hatte. Dort wurde ich zweitausendzweihundertzwölf vor Christus geboren. Ich bin nun durch diesen Umstand viertausendzweihundertsechsundzwanzig Jahre alt.“
Phillippe spürte, wie sich Judys Hand um die seine fast krallte.
„Honey – kannst du mich kurz festhalten? Ich bin mir nicht sicher... ob ich gleich in Ohnmacht falle.“
Phillippe schloss seine Frau schmunzelnd in die Arme.
„Ihre Reaktion ist völlig normal, junge Dame. Ich habe Euch dies erzählt, da Phillippe mein Sohn ist und er Ihnen nicht nur vertraut, sondern auch sehr liebt. Ich kann mich darauf verlassen, dass unser Geheimnis unter uns bleibt?“
„Natürlich, Vater. Aber erzähl weiter.“
Paul de Boutricourt nickte. „Aber bitte – setzt euch!“
„Als erstes, Phillippe – sag mir – wie hast du es damals herausgefunden, dass du anders bist?“
Phillippe strich sich über seinen Nacken – seine andere Hand hielt Judy.
„Nun, ich habe mit sechsundzwanzig Jahren an einer Eberjagd teilgenommen und – da ich zu unvorsichtig war, wurde ich aufgespiesst. Und doch bin ich nicht gestorben.“
Sein Vater nickte. „Und doch bist du nicht gestorben. Es tut mir leid, dass ich dich damals nicht aufklären konnte, aber ich war damals im Krieg.“
„Von dem man mir sagte, du wärst gefallen.“
Paul nickte erneut kaum merklich. „Das bin ich auch. Jedenfalls für die anderen – und auch leider für meine Familie. Ich habe den Pfeil einer sächsischen Armbrust in den Rücken bekommen. Man zog ihn mir heraus, doch ich wusste, dass unter normalen Umständen eine solche Verletzung zu fünfundneunzig Prozent zum Tode führen musste. Also habe ich den Sterbenden gespielt. Und bin schweren Herzens weitergezogen. Aber dann entschied ich mich, zumindest teilweise zu meiner Frau zurückzukehren. Wenn auch nur zur Beobachtung. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich, dass auch Emilie durch mich unsterblich geworden war. Aber aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund kam sie trotzdem zu Tode.“
„Fieber“, nickte Phillippe.
„Richtig.“
„Aus Neugier zum einen und weil ich deine Mutter über alles geliebt hatte, beging ich für damalige Verhältnisse ein Sakrileg. Nach ihrer Bestattung grub ich sie wieder aus und – aufgrund meines bereits damaligen hohen Wissensstandes – nahm eine Autopsie vor. Ich wollte wissen, warum sie gestorben war.“
Phillippe hatte sich nach vorn gebeugt.
„Und – weisst du es jetzt?“
Paul wiegte seinen Kopf. „Damals konnte ich es nicht herausfinden, aber vor zwanzig Jahren gelang es mir.“
Phillippe sah seinen Vater beinahe fassungslos an.
„Wie bitte?? Wie denn?“
Die Augen seines Vaters wanderten zwischen Phillippe und seiner Frau hin und her.
„Ich bin über einhundertfünfzig Jahre im Alten Ägypten gewesen und habe dort Mumifizierungs-techniken studiert. Aufgrund dieser Tatsache habe ich die Überreste deiner Mutter, Phillippe, bis zum heutigen Tage konserviert. Sie ist in einem Steinsarg in diesem Haus aufgebettet.“
Tränen schossen Phillippe in die Augen.
„Kannst du es mir zeigen, Vater?“
„Natürlich. Folgt mir.“
Sie folgten Paul de Boutricourt zum Fahrstuhl und fuhren weitere zwei Etagen nach unten. Der folgende Raum war genauso abgedunkelt wie der Erste, in dem sie Phillippes Vater in Empfang genommen hatte. Eine Stelle jedoch war von vier Fackeln beleuchtet. Ein Steinsarg stand dort. Das Grab von Emilie Deschenne. Phillippes Mutter.
„Dort liegt sie.“
Phillippe, dessen Hand Judy hielt, lief langsam hin und setzte sich auf die Steindecke. Er hatte natürlich nicht die Absicht, den Deckel herunterzuschieben.
„Möchtest du allein sein?“, horchte seine Frau.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, bleib.“
„Ich möchte dir noch etwas zeigen, Phillippe.“
Paul lief zu einer anderen abgedunkelten Stelle und entzündete dort zwei weitere Fackeln.
Das Bild einer jungen Frau erschien. Phillippe brauchte etwas, um seine Mutter zu erkennen.
„Ist sie das?“, fragte Judy leise.
„Vater – du hast gesagt – vor zwanzig Jahren hättest du sie noch einmal untersucht und du hättest herausgefunden, warum sie trotzdem gestorben ist.“
„Ja, das ist richtig. Deine Mutter – genauer gesagt ihre Zellen – hatten eine sehr seltene Zellschwingfrequenz. Und dieser Umstand führte dazu, dass das fünfte Basenpaar, das natürlich auch sie hatte, inaktiv blieb.“
Philippe nickte. „Ich weiss über das fünfte Basenpaar Bescheid. Vor einigen Monaten haben Judy und ich es herausgefunden. Und seitdem entschüsseln wir es. Aber das wird noch ein paar Monate dauern.“
„Das ist gut. Ihr müsst es weiterverfolgen.“
Zehn Minuten später erhob sich Phillippe und sie fuhren wieder in Pauls Appartment, wo sie Platz nahmen.
„Aber jetzt erzählt bitte – woran arbeitet ihr?“
Phillippe sah seine Frau an, die aber selbst zu ihm schaute.
„Offiziell arbeite ich in der Uni-Bibliothek, in der Judy und ich uns auch kennengelernt haben. Ansonsten, versuche ich, Lydias Linien zu durchforsten. Wie wir bereits gesagt haben, arbeiten wir auch an der Entschlüsselung des fünften Basenpaares. Wieviel weisst du darüber, Vater?“
Paul öffnete symbolisch seine Hände. „Leider nur soviel, als dass ich weiss, dass es in uns ist. Wenn man so lange gelebt hat wie ich, dann kann es schon mal vorkommen, dass man weitere Schritte mal ein Jahrzehnt verschiebt.“
Judy grinste bei den Worten ihres Schwiegervaters breit.
„Nun zu dir, Judy. Ich nehme an, es ist dir angenehm, wenn ich Anreden wie ‚holdes Fräulein‘ und dergleichen weglasse.“
Judy lachte. „Ohja! Unbedingt.“
„Lass mich dir trotzdem sagen, dass ich in meinen über viertausend Jahren nur wenig Frauen begegnet bin, die an dein Antlitz heranreichen.“
Judys Mund stand offen, aber Phillippe spürte, das nicht das eigentliche Kompliment, sondern die Anlehnung an die Ewigkeit seine Frau verblüffte.
„Oh... wow... im Ernst?“
„Ja.“ -
„Allerdings scheinst du soviel Intellekt zu haben, dass dir Schönheit allerhöchstens zweitrangig etwas bedeutet.“
Judy nickte. „Das ist richtig. Ich...“
Sie rang nach Worten, da sie dieses Thema nur selten behandelte.
„... wehre mich nicht dagegen, ausserdem möchte ich ja auch Phillippe gefallen. Aber manchmal... jedenfalls bedeutet mir meine Arbeit sehr, sehr viel. Ich bin angehende Kunsthistorikerin und möchte hier sehr viel erreichen.“
Paul nickte. „Was das betrifft - hätte ich vielleicht demnächst die eine oder andere Aufgabe für euch, falls ihr Interesse habt.“
„Wovon sprichst du, Vater?“
Paul überlegte fast eine Minute lang.
„Von unserer Herkunft, Phillippe. Es gibt einen Grund, warum wir alle diese zusätzlichen Gene in uns tragen. Ich kann leider noch nichts Genaues sagen. Um mehr zu erfahren, müsstet ihr alsbald etwas Archäologen spielen. In dem Zusammenhang kommt Judys Studienrichtung mehr als gelegen, auch wenn sie nicht hundertprozentig passt. Phillippe – wie ist dein arabisch?“
Phillippe grinste und in den nächsten zwei Minuten unterhielt er sich mit seinem Vater fließend in dieser Sprache, während Judy hilflos, wenn auch schmunzelnd, zwischen beiden hin und her sah.
Paul nickte anerkennend.
„Das genügt völlig. Ausgezeichnet, Phillippe. Wie ich sehe, hast du die Jahrhunderte gut genutzt.“
Sie unterhielten sich noch zwei Stunden über die verschiedensten Themen.
„Hättet ihr noch Lust, meine Bibliothek zu sehen?“, horchte Phillippes Vater. „Ich kann Euch sogar einige Sachen zeigen, von denen einige Wissenschaftler oder Historiker gar nicht mehr wissen, dass es sie gibt.“
„Welche denn?“, erkundigte sich Judy neugierig.
„Sehr gern, Vater.“
Paul de Boutricourt stand auf. „Kommt!“
Wieder führte er sie durch ein paar Gänge, die selbst schlicht verziert waren, dann sahen sie es bereits. Viele, viele Regale. So viele, dass man auf den ersten Moment den Eindruck bekommen konnte, keinen Anfang und kein Ende zu sehen.
„Wow!“, entfuhr es Judy.
„Das ist beeindruckend, Vater. Sehr beeindruckend.“
„Kommt, ich zeige Euch die wirklich wertvollen Sachen.“
Sie folgten ihm weiter gerade aus, dann öffnete Phillippes Vater eine verborgene Tür und sie betragen nun einen runden Raum, der vielleicht fünfzig Meter durchmaß. Der eben noch dunkle Raum erhellte sich durch mehrere Leuchtbögen, die ein sanftes Licht in den Raum abstrahlten. Etliche Glasvitrinen waren nun zu sehen und Judy und Phillippe liefen zu einem dieser am nächsten stehenden Glasvitrinen. Jeweils zwei Schriftrollen waren zu sehen und Phillippe klappte der Unterkiefer herunter.
„Das ist nicht möglich...“, entfuhr es ihm – schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
„Das darf nicht wahr sein“, sagte auch Judy und drehte sich zu Paul um.
„Paul – ist es das, wovon ich denke, dass es das ist?“
Phillippes Vater grinste.
„Nun, Judy, wenn du mir sagst, was du meinst, kann ich es dir beantworten, ob du richtig liegst.“
Noch einmal drehte sie ihre blonde Mähne zu der Vitrine zurück und prüfte den Inhalt noch einmal.
„Sind das Schriftrollen aus der Bibliothek von Alexandria?“
Paul de Boutricourt lächelte stolz. „Ja, so ist es, Judy.“
„Phillippe – ist dir klar, was hier für ein Wert liegt?“, sagte sie fassungslos zu ihrem Mann.
„Und dabei meine ich weniger materiell, sondern ein historischer Wert.“
Phillippe nickte. „Ja. Man geht davon aus, dass viele Schriftrollen beim Brand von damals vernichtet worden sind.“
Er drehte seinen Kopf in Richtung seines Vaters. „Und du hast einige retten können?“
Paul nickte. „Ja. Ich hatte damals, als Gajus Julius Caesar in Ägypten war, um Cleopatra zu unterstützen, schnell erkannt, was Caesar vorhatte. Ich erkannte die Gefahr und nahm etwa zwölfhundert Rollen an mich, die ich als sehr wertvoll erachtete. Leider wurden durch den Brand bis zu neunzigtausend Bände zerstört. Von den geretteten Rollen sind noch etwa eintausend gut erhalten. Einige Werke von Platon, Aristoteles, Homer – um nur einige zu nennen.“
Judy hatte ihre Hände vors Gesicht geschlagen.
„Das... das... das ist... ein... ein Schatz. Unschätzbar.“
Phillippe nickte und drückte seine Frau an sich.
„Es ist tatsächlich ein Schatz, Judy.“, bestätigte ihr Paul.
„Und du hast hier eintausend Schriftrollen?“, fragte Phillippe fasziniert.
„Ja, Philippe. Über drei dieser Räume verteilt.“
„Vater – wer weiß davon? Ich meine – außer dir?“
„Drei Leute. Die Leiterin des kunsthistorischen Museums in Berlin, ihre Kollegin des Museums in Paris sowie die in Kairo. Ihr fragt euch sicherlich, warum diese Schriftrollen nicht in einem oder mehreren dieser Museen sind.“
Judy nickte. „Der Gedanke kam mir.“
Paul wiegte sein Haupt.
„Es gibt zwei Gründe dafür. Der erste ist, dass die Rollen materiell in einem sehr schlechten Zustand sind. Würde man sie transportieren, wäre die Gefahr zu groß, dass sie dabei zu Staub zerfallen. Also habe ich mit den Leiterinnen das Abkommen, dass sie vorerst bei mir bleiben. Der zweite Grund ist, dass die Pflege und Restaurierung wesentlich teurer ist, als es sich diese Museen leisten können. Ich habe diese Mittel.“
Phillippe ließ seinen Blick durch den gesamten Raum gleiten und schätzte dabei das ab, was er sah.
„Also eintausend Rollen. Unmittelbare Zeugnisse von antiken Kulturen. Ich nehme an, dass dir klar ist, Vater, dass du hier mit diesen Rollen einen Wert von Milliarden hast.“
Paul bestätigte. „Das ist richtig, Phillippe. Eine Schätzung ergab drei bis fünf Milliarden. Wobei allerdings der historische Wert wesentlich höher ist.“
„Also das ist schwer zu erfassen.“, sagte Judy bedächtig. „Wie haben denn diese Leiter reagiert, als du ihnen das gezeigt hast?“
„Nun, die beiden europäischen Frauen waren geradezu euphorisch und gratulierten mir. Die Frau aus Ägypten war ebenfalls zu Tränen gerührt.“
„Das bin ich auch“, gestand Judy ein.
„Und wie schützt du dich gegen Diebstahl?“, erkundigte sich Phillippe.
Paul lächelte und deutete hinter sich.
„Habt ihr den Hebel gesehen, mit dem ich diese Tür geöffnet habe?“
„Ja, Vater – was ist damit?“
Auch Judy nickte.
„Nun, erstens müsste man vermuten, dass hier eine Tür ist. Zweitens müsste man zu dem Schluss kommen, dass diese Verzierung ein Hebel ist, um die Tür zu öffnen. Drittens müsste man genug Kraft haben, den Hebel zu bewegen.“
Phillippe musterte jene Verzierung, die eigentlich nur Teil eines Kunstwerkes war, das an der Wand der eigentlichen Bibliothek angebracht war.
„Willst du es versuchen, Phillippe?“
Sie verließen den Hort des Schatzes und betraten nun die Halle wieder. Paul schloss die Tür hinter sich.
„Bitte, versuch es.“
Und nun – obwohl Phillippe ohne weiteres zweihundertfünfzig Kilo an Masse bewegen konnte, hatte er größte Mühe. Er stöhnte, bis er nach einer Minute reichlich zwei Zentimeter bewegt hatte.
„Das ist... das ist... selbst für mich fast zu schwer.“
„Es ist für eine Kraft von dreihundert Kilo ausgelegt.“
Judys Augen wurden fast doppelt so groß. „Wow. Dann verstehe ich, wieso du dir keine Sorgen machst.“
„Danke für dein Vertrauen, Vater!“, sagte Phillippe.
Auch Judy nickte. „Wir wissen das sehr zu schätzen.“
Paul lächelte. „Ihr seid meine Familie.“
„Und wir schweigen wie ein Grab.“, fügte Phillippes Frau hinzu.
„Ihr fahrt wieder nach Paris zurück?“
Beide nickten. „Ja, Vater. Zu einem kranken Freund von mir. Er hat Rückenmarkkrebs und bekommt einmal die Woche eine Nanobot-Dusche.“
Paul sah ihn ernst an. „Benötigt ihr Hilfe? Finanziell?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Wir haben genug. Und ich habe genug angelegt.“
Judy grinste. „Mein Honey ist Multimillionär.“
Halb verlegen, halb gelangweilt drehte Paul seine Augen. „Das bin ich auch. Was soll’s. Falls ihr Hilfe braucht – zögert nicht. Ich habe mehr Ressourcen, als ihr ahnt.“
„Vermutlich“, sagte Phillippe, während Paul die beiden noch hinaus begleiteten.
Am Abend trafen sie wieder in ihrer Wohnung ein.
„Was glaubst, wie viel Ressourcen hat dein Vater, Honey?“, erkundigte sich Judy, nachdem sie Sebastien besucht hatten.
Phillippe atmete tief durch. „Vermutlich deutlich mehr als ich. Meine Vermutung ist sogar, dass er mehr hat als Lydia.“
Judy, die auf seinem Schoß hing, sah ihn mit großen Augen an.
„Meinst du?“
Er nickte. „Ich denke schon. Du darfst nicht vergessen, er hat mehrere Zeitalter der Menschheit miterlebt.“
Judy schlang ihre Arme fest um seinen Hals und kuschelte ihren Kopf an seinen.
Frühsommer 2015.
Phillippe saß an diesem einunddreißigsten Mai mit Tränen des Glücks in den Augen am Ehebett und strich sanft seiner Frau über die Wange. Vier Stunden zuvor hatte diese per normalem Geburtsvorgang entbunden und ihre gemeinsame Tochter, Lea Broker, zur Welt gebracht. Lea selbst wog fast drei Kilo und lag mit ihrer abgetrennten Nabelschnur neben ihrer etwas erschöpften Mutter.
Phillippe hockte neben seiner Frau und konnte sich am Anblick seiner kleinen Tochter nicht satt sehen. Kaum nahm er wahr, dass nach wie vor Tränen aus seinen Augen liefen. Zu gern hätte er Lea auf den Arm genommen und sie sanft an sich gedrückt, doch damit hätte er Judy geweckt und das wollte er nicht. Sie sollte sich ausruhen.
Zwei Stunden später endlich hatte er zumindest diesen kleinen Traum wahrgemacht und hielt dieses kleine Bündel Mensch in seinen Armen, während er seine unendlich glücklich aussehende Frau ansah.
Vorsichtig beugte er sich zu ihr und küsste Judy so sanft er konnte.
Danach gab es Mahlzeit und zum allerersten Mal in ihrem Leben begann seine Frau Lea zu stillen.
Es klingelte, er stand auf und nahm an der Tür seinen Vater und auch Sophie in Empfang.
Nachdem sie Phillippes Vater im Winter entdeckt hatten, war dieser nun einige Male bei ihnen gewesen und hatte auch Sophie und Sebastien kennen gelernt. Und beide standen sie nun da – Sophie mit einem Blumenstrauß und sein Vater mit einem verpackten Etwas, das er auf die Schnelle nicht identifizieren konnte.
Nachdem er beide begrüßt hatte, geleitete er sie zu Judy und die Familie war beinahe komplett an diesem Sonntag. Judys Eltern würden auch noch kommen, hatten sich für den Nachmittag angekündigt.
„Sophie, Paul – ich freue mich sehr!“, sagte Judy.
„Judy, ich habe hier etwas für dich. Du hattest angegeben, dass du dich für sumerische Kunst interessierst.“
Phillippes Frau nickte und Paul packte sein Geschenk aus.
„Als Doktorin der Kunsthistorie auf jeden Fall“, sagte Phillippe stolz.
In der Tat hatte Judy drei Wochen zuvor ihre Doktorarbeit über Kunst im alten Mesopotamien abgeschlossen. Mit ‚summa cum laude’. Dieser Erfolg war auch ein Ergebnis von Pauls Unterstützung. Natürlich – eine bessere Quelle konnte Judy gar nicht haben.
„Das denke ich auch“, bestätigte Paul lächelnd. „Es ist ein guter Anfang. Aber bis du meine vierzig schaffst, wirst du noch etwas brauchen.“
Mit aufklappendem Mund sah Sophie zu Judys Schwiegervater.
„Sie haben vierzig akademische Grade?“
Paul nickte kurz. „Ja, Sophie.“
„Was ist das, Paul?“, fragte Judy neugierig.
„Warte, bis ich es ausgepackt habe, dann wirst du es schnell erkennen.“
Noch ein paar Handgriffe, dann holte er eine dunkel erscheinende Statue heraus. Judy grinste, als sie es sah.
„Eine Gudeastatue. Geformt aus Duerit. Sie stellt Gudea von Lagasch dar.“
Dann sah sie zu Phillippes Vater. „Danke sehr, Paul.“
Sie deutete ihn zu sich und gab ihm links und rechts ein Küsschen.
„Die ist bestimmt sehr wertvoll“, mutmaßte Sophie.
„Ein paar hundertausend Euro, ja“, bestätigte ihr Paul.
„Und, Phillippe“, wandte sich Sophie an Judys Mann, „wie ist das, wieder Vater zu sein?“
„Ganz und gar wundervoll“, konnte er ihr antworten. „es ist fast wie eine Neugeburt.“
Inzwischen hatte Paul die Statue in eine kleinere Glasvitrine gestellt und diese auf das Nachttischchen neben Judy abgesetzt.
„Alles in mir sagt mir, dass dieses Mal alles richtig läuft.“
Er beugte sich vor und küsste Judy noch einmal.
„Ist Phillippe ihr einziges Kind, Paul?“
Paul atmete tief durch.
„Der einzige Lebende, ja. Ich hatte als Babylonier noch weitere Kinder, doch durch Fügungen des Schicksals verloren alle ihr Leben.“
„Als Babylonier? Müssen Sie viel von der Welt gesehen haben!“
„Nun ja, Sophie, wenn man eine solche Eigenart der Natur in sich hat, muss man sie auch in solchem Maße ausnutzen.“
Sophies Augen wurden schmal.
„Und in all ihrer Lebenszeit haben Sie keine Erklärung für diese Eigenart, wie Sie es sagen, gefunden?“
„Tja, Sophie, die Menschheit ist erst seit einigen Jahrzehnten in einem großen technologischen Umbruch. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal, wie diese Eigenart aussieht.“
„Haben Sie denn wenigstens eine Vermutung?“
„Sagen wir mal, es steht für mich fest, dass keine irdische Macht dahinterstecken kann. Um so etwas zu schaffen, wie das, was in uns ist, ist die Menschheit noch gar nicht fähig. Es wird noch wenigstens zweihundert Jahre dauern.“
„Nun“, sagte Phillippe, „ich selbst habe es bis vor einem Jahr einen Gendefekt genannt.“
„Den nun wahrscheinlich auch unsere Kleine hat, Honey.“, meinte Judy.
Als nächstes bekam Sophie Lea auf den Arm. Die Patentante.
Eine Woche später landete ihr Flieger in Algier und das Erste, was sie taten, war, sich ein Hotel zu suchen. Judy hatte sich auf Phillippes Bitte hin ein Kopftuch umgebunden. Aber so schlecht war das auch gar nicht. Denn die Hitze war doch spürbar.
Nachdem sie eingecheckt hatten, bekam Judy auch immer mehr vom Leben und der Mentalität dieses nordafrikanischen Landes mit. Fast überall, wo sie hinsahen – im Prinzip geschätzte zwei Drittel - waren verschleierte Frauen und Männer mit Turbanen zu sehen – dunkle Turbane. Phillippe erklärte ihr, dass dunkles Leinen ein viel besserer Sonnenschutz war.
Und natürlich auch die Sprache – sie hörten viel arabisch, hin und wieder einige Berberdialekte, aber auch zu Judys Freude französisch. Damit würde sie in fast allen Läden und Behörden problemlos durchkommen. Und auch die Farben, auf die sie überall trafen, wiesen ihnen auf orientalische Gebräuche. Genauso wie die Gerüche, die sie wahrnahmen. Phillippe wurde mehr und mehr an frühere Zeiten erinnert. Das letzte Mal, das er hier gewesen war, war siebzehnhundertsiebenundzwanzig gewesen. Seitdem hatte sich einiges geändert.
Nun jedoch mussten sie zuerst einige Behördengänge machen. Sie brauchten eine Grabgenehmigung, durch die sie erst einmal zehntausend Euro los wurden. Dann erstellten sie davon – auf Anraten Pauls, mit dem sie über ein Interface verbunden waren – eine Kopie davon. Der nächste Punkt auf der Liste war, einen Wagen zu besorgen. Da sie hier möglicherweise sogar über ein oder zwei Wochen hinweg sich aufhalten würden, sollte dieser dann etwas an Komfort bieten. Also nahmen sie einen Mercedes, der groß genug für Vorräte war und auch eine Wohneinheit enthielt. Er kostete sie vierhundertfünfzig Euro pro Tag. Dazu mussten sie noch jede Menge Extra-Sprit aufnehmen, denn sie wollten sich nicht darauf verlassen, unterwegs eine Tankstelle anzutreffen.
Dann ging es ans Einkaufen. Sie besorgten sich allerlei Grabungsgeräte – Spitzhacken, Schaufeln und auch noch einige elektrische Geräte, damit sie nicht blind in der Gegend auf gut Glück zu buddeln anfingen.
Zum Schluss machten sie noch einen Abstecher zum größten Polizeirevier Algiers. Phillippe erkundigte sich dort nach möglichen Gefahren in der Gegend, in die sie wollten. Man gab ihnen eine Nummer, die sie anrufen sollten, würden sie Hilfe benötigen.
Anschließend fuhren sie ins Hotel zurück. Der Hotelpage wollte ihnen zwar die Koffer aufs Zimmer tragen, bekam diese aber keinen Zentimeter in die Höhe. Umso mehr sah er Phillippe, der vom Äußeren her keinen Bodybuildereindruck machte, fast fassungslos an, als diese die Koffer beinahe mühelos hochnahm und durch den Hotelkorridor schleppte. Judy, die natürlich Lea bei sich hatte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Auf Judys Bitte hin sahen sie sich nach dem Abendessen noch Algier bei Abend an. Zuerst fuhren sie ein paar hundert Meter nach Süden, bogen dann aber mehr und mehr nach Osten ab. Von weitem sah Judy die sichelförmige Meerbucht, die Hafenanlagen von Algier. Anschließend sagte Phillippe ein paar Worte zu ihrem Chauffeur, der dann erneut die Richtung wechselte.
„Wohin fahren wir jetzt?“, horchte Judy neugierig.
„Zur Altstadt. Wir sehen uns die Kasbah an.“
Als frischgebackene Kunstdoktorin wusste seine Frau natürlich, dass damit die aus dem Mittelalter stammenden Festungen und auch Moscheen gemeint waren. Sie kuschelte sich an Phillippe und genoss den Anblick, auch wenn die Sonne längst untergegangen war. Dann bogen sie zum Hafen ab.
Am nächsten Morgen waren sie damit beschäftigt, ihre Vorräte zu verstauen, ehe sie dann zur Mittagshitze endgültig ihre Reise antraten. Phillippe lenkte den Wagen die ersten anderthalb Stunden nach Osten, anschließend nach Süden. Judy merkte sehr bald, dass sich das Klima wieder änderte und setzte ihre blau-getönte Sonnenbrille auf. Zwischendurch, als Lea einige Laute von sich gab, kletterte Judy nach hinten und stillte ihre kleine Tochter. Dann kam sie mit ihr auf ihren Platz zurück und schmuste mit ihr. Sie sang sogar leise.
„Es ist fast wie Urlaub“, meinte Judy grinsend und drückte liebevoll seine freie Hand.
Nach einem Zwischenstopp, den sie für eine Mittagspause nutzten – Phillippe war diesmal mit dem Windelwechseln dran, hatten sie gegen Abend die gute Hälfte der Strecke geschafft. Morgen im Laufe des Tages würden sie die Höhe von Illizi passieren.
Entgegen Judys Vorstellung – nachts würde es sehr kalt werden – sank die Temperatur nach Sonnenuntergang gerade mal um ein paar wenige Grad und blieb bei neunundzwanzig hängen.
„Na klasse – und ich habe mir warme Wolldecken mitgenommen.“
„Wir haben Sommer, Cheri. Tagsüber nimmt der Sand Unmengen an Hitze auf und gibt sie nachts wieder ab. Das, was du meinst, geschieht hier im Winter.“
Am nächsten Morgen bogen sie nun scharf nach Osten ab und erreichten zur Mittagszeit In-Amenas, wo sie sich erneut stärkten. Am frühen Abend schließlich erreichten sie nach rund zweitausend Kilometern Fahrt Illizi und bereits nach Sonnenuntergang und weiteren einhundertfünfzig Kilometern waren sie am Ziel. Sie hatten bis auf einen Kilometer jenen Punkt erreicht, wo laut Pauls Koordinaten eine kleine Siedlung der Bronzezeit liegen sollte. Vergraben unter Metern von Erde und Sand.
Phillippe lief mit seiner jungen Familie müde noch ein paar Schritte und zusammen besahen sie sich die Gegend. Sie waren in die Tassili-Gebirgsregion hinein gefahren.
Am nächsten Tag schliefen beide aus, dann begann Phillippe aber bald mit der Arbeit. Er holte seinen Vater ans Interface und beriet sich mit ihm über den Platz der ersten Schritte. Was sie benötigten als erstes war eine Art Sonarstampfer. Dieses Gerät sendete ein Echo aus und konnte aus den empfangenen Signalen ein Muster des Untergrunds bilden. Nun gab es verschiedene Größen eines solches Stampfers. Der Größte wäre viel zu schwer gewesen und so hatten sie einen Kleineren mitgenommen, den Phillippe jetzt zusammenbaute.
Inzwischen erschaffte Judy einen kleinen zusätzlichen wohnlichen Bereich vor ihrem Wohnwagen. Sie stellte einen dunklen Sonnenschirm aus, unter den sie Lea in ihrem Körbchen legte, dazu einen Tisch und ein paar Stühle. Dann fühlte sie eine Erschütterung, fast wie ein kleines Erdbeben.
Phillippe hatte das erste Echo erzeugt. Um ein aussagekräftiges Bild zu erhalten, reichte dies jedoch nicht. Er nahm das etwa vierzig Kilogramm schwere Gerät und schleppte es mühelos zwanzig Meter weiter, wo er ein weiteres Echo abschickte. Das gleiche geschah noch zwei weitere Male. Dann erst hatte das Computerinterface genug Daten.
Er übertrug das Interface auf die anderen beiden Einheiten von Judy, die gerade wieder Lea stillte und das von seinem Vater, der nach wie vor in Europa war, und beriet sich mit beiden.
„Also ich sehe eine Art Kreis, der etwa drei Meter groß ist“, überlegte Judy. „Es könnte sich um einen Brunnen handeln. Das andere, was etwa fünfzehn Meter weit weg ist, könnte eine Mauer sein.“
Phillippe nickte. „Ich denke, das können wir tatsächlich so festhalten.“
„Ich sehe noch etwas“, hörten sie Paul sagen. „Links und rechts davon sind, allerdings kaum zu erkennen, weitere Bereiche. Das dürften entweder Behausungen oder Handwerksplätze sein.“
„Und wie tief ist das?“, überlegte Judy.
„Schwer zu sagen“, meinte Phillippe. Er wusste auch nicht wirklich eine Antwort darauf.
„Ich würde sagen, wir haben hier eine Tiefe von wenigstens sechs Metern.“
Judy klappte der Mund auf. „So groß wie ein Haus?“
Phillippe nickte.
„So in etwa, Judy, ja.“, hörten sie Paul.
„Dann mache ich mich gleich an die Arbeit.“, sagte Phillippe, schnappte sich eine Spitzhacke für die oberste Schicht und begann mit kräftigen Schlägen, den Erd- beziehungsweise Sandboden aufzuhacken. Nach fünf Minuten zog er sich unter Judys Grinsen das T-Shirt aus. Die Sonne schien von Minute zu Minute erbarmungsloser und schnell band sich Phillippe einen dunklen Sonnenschutz um den Kopf, mit dem und der ebenfalls blau-getönten Sonnenbrille er fast komisch aussah.
Judy merkte schnell, mit welcher Kraft Phillippe die oberste Bodenschicht aufhackte. Und nach einer Viertelstunde schnappte sie sich eine Schaufel und begann, die ersten Sandberge, die Phillippe notdürftig schuf, abzutragen. Sie hatte sich inzwischen ebenfalls einen Kopfschutz gebunden und hatte sich bis auf ein T-Shirt und eine kurze Hose entkleidet.
Phillippe, der in früheren Jahrhunderten bis zu zweiundsiebzig Jahre lang in Bergwerken geschuftet hatte, war schnell in seinem Element drin und kam zügig voran. Und genauso wie er voran kam, leerte er auch eine Wasserflasche nach der Anderen. Nicht wegen der Arbeit – sondern die Hitze bescherte seinen Körper ein ordentliches Schweißband.
„Also wenn du weiter so schnell voran kommst“, staunte Judy zur Mittagszeit, „haben wir spätestens morgen die Siedlungsschicht erreicht. Oder, Honey?“
Phillippe wiegte seinen Kopf. „Ich muss nachher wahrscheinlich schon die erste Treppe bauen. Aber – ja, ich denke du könntest recht haben.“
Judys Hand glitt über das Köpfchen von Lea, die gerade wieder an ihrer Brust hing.
„Willst du sie haben?“, fragte sie ihn und reicht ihm das Mädchen, nachdem es sich satt getrunken hatte hinüber.
„Ich hatte fast vergessen, wie es ist, Vater zu sein“, gestand er und hielt den kleinen Körper sanft an sich gedrückt.
Judy lächelte ihn an uns tätschelte seinen schon fast wieder braungebrannten Oberkörper. „Ich verspreche dir, du wirst es noch oft genug tun, Honey.“
Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn fest auf den Mund.
Gegen Sonnenuntergang hatte Phillippe schließlich ein Loch von drei Mal zwei mal zwei Metern geschafft – inklusive einer Treppe – und Judy war mit dem Sand- und Erde-Wegbringen fast nicht mehr hinterhergekommen.
„Aber zu sehen ist noch nichts oder?“, fragte sie und leuchtete mit einer Halogen-Lampe in das Loch.
„Nein“, bestätigte ihr Phillippe. „Dazu sind wir noch nicht tief genug.“
„Und ich werde morgen den schlimmsten Muskelkater meines Lebens haben.“
„Nicht so schlimm wie du denkst, Cheri. Unser fünfte Baustein wird größere Teile davon absorbieren.“
„Tatsächlich?“
„Ich denke ja. So jedenfalls war es bei mir früher und ich vermute auch bei meinem Vater vor Tausenden von Jahren.“
„Aber Sonne werde ich hier trotzdem viel abkriegen.“
Ein paar Laute drangen aus Leas Körbchen. Die Windeln.
Dann fiel Judy trotzdem todmüde ins Bett, bestand aber noch auf einer Stunde Liebe, die ihr Phillippe natürlich nicht verweigerte.
Am folgenden Morgen arbeitete Phillippe wieder eine Stunde wie besessen, als er plötzlich inne hielt. Er sah prüfend in Richtung Sonne, lief dann aus der Grube heraus und auf den nächsten Hügel zu.
„Honey, was...?“
Judy lief ihm hinterher. „Was ist denn, Honey? Hast du etwas gehört?“
„Warte kurz“, bat Phillippe seine Frau.
Prüfend sah er sich um. Dann schaute er zur Grube – und wieder zu seiner Frau.
„Haben wir die Abdeckplane griffbereit?“
Judy nickte. „Was ist, Honey?“
„Ein Sandsturm kommt. Wir haben drei Minuten Zeit. Komm!“
In großen schnellen Schritten lief er wieder runter, holten aus einem Fach im Wohnwagen eine große Plane hervor, entfalteten sie und verankerten sie fest im Boden.
Dann kam Wind auf. Das Körbchen mit Lea hatte Judy bereits in Sicherheit gebracht, nun stellten sie noch die restlichen Möbel ebenfalls wieder rein. Kaum hatten sie den Wohnwagen verschlossen – als der Sturm anfing.
Staunend sah Judy abwechselnd zu den Fenstern, wo nur noch eine unidentifizierbare Suppe zu sehen war. Phillippe strich sanft durch ihr golden-blondes Haar.
Sie drehte sich zu ihm um.
„Woher hast du das gewusst, Honey?“
Ihre Arme schlossen sich fest um seinen Nacken. Er setzte sich auf die Couch und zog Judy mit sich.
„Erinnerst du dich noch, dass ich mal sagte, ich wäre für einige Zeit hier auf diesem Kontinent gewesen?“
„Ja, Phillippe.“
„Bereits beim ersten Mal hat mir ein Fremdenführer damals beigebracht, welche Anzeichen vor einem Sandsturm auftauchen.“
„Und diese Anzeichen hast du eben gespürt?“
Phillippe nickte und die sanften Lippen seiner Frau belohnten ihn.
Aus ihren Augenwinkeln schien Judy gesehen zu haben, dass Lea wach war, denn sie nahm sie nun aus dem Körbchen und begann mit ihr zu sprechen.
Sie küsste sie und sprach zu ihr, küsste sie wieder und redete weiter. Und Lea gab erstmalig so etwas wie Freudenlaute von sich. Phillippe sah glücklich, wie viel Liebe in Judy steckte.
Irgendwann sah sie wieder nach draußen. „Wie lange dauert denn so ein Sandsturm?“
„Durchaus ein paar Stunden.“, sagte er und zog seine Frau an seine Brust.
Erst am frühen Nachmittag legte sich der Sturm und Phillippe musste mit einem kräftigen Schub die Tür aufstoßen – der Sand lag bis zu dreißig Zentimeter über dem Eintritt.
„Heiliger Strohsack!“, entfuhr es Judy.
„Ja. Wenn wir Glück haben, erleben wir keinen Weiteren.“
„Aber dieser Tag ist verloren vermutlich“
Phillippe nickte. „Ja, Cheri. Ich muss erst den gesamten Wohnwagen freischaufeln und dann schauen, ob wir auch ein Teilstück zur Straße frei räumen müssen.“
„Lass mich dir helfen, Honey.“
Natürlich war es Fakt, dass Judy maximal fünf Kilogramm mit jeder Schaufel freibekam – Phillippe dagegen schaufelte das fast Dreifache pro Schaufel weg und das mit einer Kraft, als ob es Luft wäre. So hatten sie nach gerade einmal fünfzig Minuten ihren Wohnwagen wieder befreit und Phillippe sah schnell, dass die Strecke zur Straße durchaus befahrbar war.
Und in der Tat dauerte es bis in die frühen Abendstunden, bis Phillippe die zwei bis drei Tonnen an Sand von der bedeckten Grube frei geräumt hatte, dass die Plane wieder sichtbar wurde. Sicherheitshalber jedoch ließ er sie erst einmal darüber.
„Mich wundert es nur, dass das Gewicht des Sandes die Plane nicht völlig nach unten gedrückt hat.“, sagte Judy nach dem Abendessen, als sie eine Partie Schach spielten.
„Das liegt daran, Cheri, dass wir genügend Fläche außen hatten, so dass genug Gewicht vorhanden war, um die Plane so zu lassen.“
Am nächsten Morgen wollte Phillippe weiter graben und zog die Plane wieder weg, als er einen Schreckensschrei von Judy hörte. Innerhalb weniger Sekunden war er bei ihr und sah den Grund – aus dem Sand ragte eine menschliche Hand hervor. Phillippe überwand sich und begann, die – denn das war es wohl – Leiche frei zu buddeln. Der völlig ausgetrocknete Körper einer Frau kam zum Vorschein.
Phillippe sah, dass Judy noch immer geschockt war und nahm sie erst einmal in die Arme. Als es ihr etwas besser ging, wählte er die Nummer, die ihm der Polizeibeamte in Algier gegeben hatte und gab ihm seine Position durch. Da es natürlich selbst über Luftlinie nicht weniger als eintausendundfünfhundert Kilometer waren, dauerte es fast vier Stunden, bis ein Polizeihubschrauber eintraf. Phillippe erklärte ihm noch einmal, dass weder er noch seine Frau die Leiche angefasst hätten – sie hatten sie nur frei gebuddelt. Der Beamte bedankte sich, fotografierte die Leiche und wickelte sie dann in ein Leichentuch. Dann verschwand der Hubschrauber wieder.
Phillippe hatte nun auch seinen Vater kontaktiert.
„Nun, das ist nichts Ungewöhnliches. Es mag tragisch sein, aber sie war nicht die Erste und wird nicht die Letzte gewesen sein, die da draußen umgekommen ist. Wie kommt ihr voran?“
„Wir haben wegen des gestrigen Sandsturms einen Tag verloren, aber im Moment bin ich bei vier Metern. Ich bin inzwischen drei verschiedene Sandarten gestoßen.“
„Der eine Tag ist nicht schlimm. Bis später.“
Phillippe sah, dass Judy wieder mit Lea kuschelte. Er setzte sich kurz zu ihr.
„Wie fühlst du dich?“, horchte er.
„Ganz in Ordnung“, lächelte sie. Phillippe küsste sie zärtlich.
„Du bist tapfer, Cheri.“
„Weil ich dich habe, Honey. Und unseren Schatz. Ich helfe dir nachher wieder.“
„In Ordnung.“
Am späten Nachmittag überlegte Phillippe bereits, ob es noch bis morgen dauern würde, bis er auf die ersten Fundamente stoßen würde, als seine Schaufel auf einen Widerstand traf. Judy, die langsam immer müder die Körbe mit Sand hochzog, war sofort hellwach.
„Cheri – bringst du mir das Putzzeug?“, fragte er sie, doch seine Frau war bereits unterwegs und kurz darauf warf sie ihm den Beutel zu, den er seit vielen Jahren besaß.
Mit seinem geübten Blick schätzte er die Höhe des – und das hatte er schnell erkannt – obersten Steinwalls ein und maß mit einem Laser die exakte Höhe. Es waren über fünfeinhalb Meter.
Und nun begann erstmals Feinarbeit. Er legte die Schaufel vorerst beiseite und begann mit einem großen Pinsel die Steine frei zuputzen. Eine Arbeit, die nun zwar deutlich langsamer voranging, aber wahnsinnig spannend war. Judy war über die lange Sandtreppe zu ihm gelaufen und grinste ihn müde an.
„Gott ist das aufregend.“
„Nimm dir auch einen Pinsel und mach mit.“, schlug er vor.
„Moment.“
Sie lief wieder aus der Grube und kam mit Leas Körbchen wieder, das sie an den Rand der Treppe stellte. Außerdem band sie etwas Leinen als Sonnenschutz – und küsste Lea noch einmal.
„Ich möchte sie in Sichtweite haben.“
„Natürlich, Cheri.“
Nach einer halben Stunde erhob er sich überlegend. Das Beste würde es wohl sein, wenn er weiter mit der Schaufel grub und seine Frau, die schon deutlich Farbe abbekommen hatte, die Feinarbeit machte. Zum unzähligen Mal trank er eine Wasserflasche leer, Judy gesellte sich lächelnd zu ihm.
„Du bist schon schön braun, Honey.“, meinte sie und küsste ihn auf die Wange.
Lea gab wieder Laute von sich, worauf Judy zu ihr lief und sie wiederholt zu stillen begann.
„Ich finde es aber unglaublich, Honey, dass wir nach vier Tagen schon so weit sind. Wir haben sogar einen Tag verloren. Normalerweise braucht man doch mehrere Arbeiter. Aber du arbeitest ja auch für zehn.“
Phillippe nickte. „Wobei ich sogar das Gefühl habe, dass es mir in der Sonne sogar noch leichter fällt als sonst.“
„Wer weiß, Honey, vielleicht wirkt dieses fünfte Basenpaar von uns ja wie eine Solarzelle.“
Er sah sie überrascht an und grinste dann. „Auf diesen Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen.“
Judy lachte los und strich über seine braungebrannte Brust.
„Komm, Honey, wir machen Schluss für heute.“
„Einverstanden, ich habe auch einen Bärenhunger.“
Im Laufe der nächsten Tage legten Phillippe und Judy einen Teil der Mauer und auch den Brunnen frei. Phillippe machte nun ebenfalls Fotos und schickte sie seinem Vater.
Dieser kam mit der ersten Überraschung.
„Die Art und Weise des Brunnens sieht nach einem altägyptischen Stil aus.“
Judy nickte. „Da gebe ich dir Recht, Paul, auch wenn das etwas an meinem Gebiet vorbei geht.“
„Das würde bedeuten, dass Nomaden damals ziemlich weit nach Osten gelangt sind.“, überlegte Phillippe.
„Was auch meine Theorie stützt, dass erstens eine Verbindung mit dem alten Ägypten besteht und es diesen Mythos tatsächlich gibt.“
„Das bedeutet, wir sind auf dem richtigen Weg.“, sagte Judy.
„Wobei es damals durchaus üblich war, dass Pharaonen Expeditionen in die verschiedensten Gebiete entsandt haben. Möglicherweise ist auf diesem Weg etwas in eure Siedlung gekommen.“, erklärte Paul.
„Sollen wir auf irgendetwas besonderes achten, Paul?“
Phillippes Vater überlegte ein paar Minuten.
„Folgendes: Beginnt mit den Überresten der Siedlung im Osten. Solltet ihr dort nichts finden, dann Westen und schließlich Süden. Im nördlichen Bereich dürfte am wenigsten etwas zu finden sein. Viel Glück!“
„Hat das etwas mit der Sonne zu tun?“, horchte Judy, als die Verbindung mit Paul wieder getrennt war.
„Ja, möglich“, nickte Phillippe. „Wenn im alten Ägypten die Sonne im Osten aufgegangen war, bedeutete das, dass Ra wiedergeboren worden war. Du weißt schon – der Sonnengott – Amun-Ra. Es könnte sein, dass bedeutende Schriftrollen in Richtung Osten gelagert wurden, damit der Gott einen möglichst kurzen Weg zu ihnen hat. Aber das ist nur eine Vermutung.“
„Weil Ägypten östlich liegt von hier.“, meinte seine Frau.
„Richtig“, bestätigte Phillippe ihr.
Phillippe war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt Wohnreste irgendwelcher Häuser finden würden. Aber Reste von Tonkrügen oder Tongefäßen konnten die Jahrtausende tatsächlich überdauert haben.
Das Ausmaß der Grube hatte inzwischen über einhundert Kubikmeter erreicht und mit Hilfe des Stampfers stießen sie drei Tage später tatsächlich auf etwas, das wie antike Hütten aussah. Phillippe hielt nun nach ägyptischen Symbolen Ausschau, wurde aber vorerst enttäuscht. Und doch fand er schließlich in einem noch unversehrten Tongefäß – Papyrus!
„Cheri?“, rief er nach seiner Frau, die mit leuchtenden Augen seinen Fund ansah. „Ich brauche die andere Ausrüstung.“
„Sofort“, sagte sie euphorisch und kam kurz darauf mit etlichen Folien wieder. Phillippe zog sich Baumwollhandschuhe über und legte jeden Papyrus vorsichtig in eine Folie und verschloss diese sogleich wieder. Es waren sechs Stück.
„Was machen wir jetzt damit?“, fragte ihn Judy am Abend.
„Wir haben dummerweise keinen Scanner dabei. Aber vielleicht schaffen wir es über das Interface. Eventuell kann mein Vater etwas damit anfangen.
„Gut“, sagte Paul wenige Minuten später, „schauen wir mal, ob wir damit etwas anfangen können. Ich muss euch jetzt bitten, jedes Papyrus langsam vor der Optik hin- und her zu drehen, so dass ich ein Rundum-Bild bekomme.“
„Wie schnell kannst du etwas sagen, Paul?“, horchte Judy.
„Jedenfalls nicht allzu schnell. Es würde mich wundern, wenn es mir ins Auge springen würde. Und nebenbei – es kann genauso gut sein, dass wir gar nichts finden bezüglich des Mythos.“
„Wann hast du dich denn zum letzten Mal geirrt, Paul? Bei deinem Erfahrungsschatz?“, fragte sie belustigt.
Paul lachte. „Gute Nacht, ihr beiden.“
„Du hast einen tollen Vater, Honey.“, sagte sie später vor dem Einschlafen.
„Ich freue mich, dass du dich mit ihm so gut verstehst.“
Sein Blick fiel auf die momentan schlafende Lea. Dann sah er zu seiner Frau.
„Was ist, Honey?“
„Ich dachte, Babys weinen nachts.“
Judy nickte lächelnd. „Das tut sie auch.“
„Warum höre ich es dann nicht oder werde wach davon?“
„Du hast einen sehr festen Schlaf, Honey. Und unser Schatz weint sehr leise. Ich höre es natürlich.“
„Und du weckst mich nicht? Warum?“
„Weil du so friedlich schläfst. Und ich liebe dich viel zu sehr, als dich dann wecken würde.“
Seine Hand streichelte liebevoll ihre Wange.
„Dann sei so lieb und weck mich bitte das nächste Mal. Dann bin ich dran.“
Judy grinste sich einen ab. „Honey – willst du ihr dann deine Brust geben?“
Phillippe sah seine Frau an wie der Ochse das neue Tor, während sie die Hand vor den Mund hielt um nicht durch lautes Lachen Lea zu wecken. Sein Kopf landete wie ein schlaffer Sack auf dem Bett und er pustete aus. Judy konnte sich nach wie vor kaum halten vor Lachen und streichelte dann seine Brust.
„Ich bin aber einverstanden, wenn wir, wenn Lea mit dem Stillen fertig ist, dann abwechselnd ihr die Flasche geben.“
„Gegenvorschlag, Cheri. Die ersten drei Monate bin ich dran, danach wir beide abwechselnd.“
Sie überlegte.
„Cheri – ich möchte nicht, dass du jede Nacht tausend Mal raus musst. Du sollst auch mal wieder durchschlafen können.“
„So schlimm ist es nicht, Honey. Im Durchschnitt ein bis zwei Mal pro Nacht.“
„Ich sag ja, du bist ein tapferes Mädchen.“
Sie sah ihn etwas seltsam an.
„Gefalle ich dir eigentlich noch, Honey?“
Überrascht sah er sie eine kleine Ewigkeit an.
„Ich mag solche Fragen nicht, Cheri.“
„Nun, meine Brüste sind größer als früher, weil ja Milch für Lea drin ist.“
„Natürlich.“
Ihr Finger litt über seinen Nabel.
„Und es könnte ja sein, dass dir meine früheren Brüste besser gefallen haben.“
Hatte sie für den Moment vergessen, dass er – vielleicht mit Ausnahme seines Vaters – Frauen besser einschätzen konnte als jeder andere Mensch dieser Welt?
Phillippe begann zu grinsen, so dass Judy nach wenigen Minuten aufgab.
„Du verkasperst mich, hm? Zur Hälfte?“
Nach seinem ersten Satz hatte Judy schon eine Entgegnung auf der Zunge, dann sah sie ihn konsterniert an.
Sie stöhnte kurz. „Ich hatte für einen Moment vergessen, dass du über eintausend Jahre alt bist.“
„Über eintausendzweihundert.“
„Ist ja noch schlimmer.“
Sie grinsten sich beide an und Judy küsste ihn so zärtlich sie konnte.
„Weißt du, Cheri – ein weiser Mann hat einmal gesagt: Wir verehren einen Menschen wegen seiner Fähigkeiten, aber wir lieben ihn wegen seiner Fehler.“
Judys Augen wurden groß.
„Tatsächlich, Honey? Dann erzähl doch mal, wie sehr du mich liebst!“
Ihr Mund zuckte nach der Frage.
Sie hat einfach kein Pokerface, dachte er. Ich schon.
„Ach weißt du, eigentlich...“
Er zog das letzte Wort absichtlich in die Länge.
„Pass auf, was du sagst!“
„Lass mich mal sehen – weißt du, deine Nase ist eine Winzigkeit zu klein, deine Lippen sind im Durchschnitt etwa einen halben Millimeter zu schmal... nun, zumindest vom anatomischen Standpunkt aus.“
Judys Mund klappte auf.
„Tah! Nur weiter so, dann bin ich morgen weg.“
„... dein Kinn ist zu weit unten, dein ganzer Kopf ist etwas zu schmal...“
Judy steckte ihm die Zunge raus.
„Ich finde garantiert eine Million Sachen an dir.“
Sie grinste, schüttelte den Kopf und verbarg ihre Augen.
„Und das macht dich zur tollsten Frau der Welt.“
Sie nahm ihre Hand wieder weg und er sah Tränen in ihren Augen.
Ihre Lippen setzten sanft auf seinen auf. Er merkte, wie viel Kraft und Gefühl sie in diesen Kuss legte. Ihre Tränen liefen währenddessen auf sein Gesicht.
Nach dem Kuss sah sie es und fuhr sanft mit den Fingern über seine feuchten Wangen.
„Meine Tränen für dich.“, sagte sie leise.
Ihre Augen waren auf einen Punkt auf seinem Bauch gerichtet. Dann zu seinen Augen.
„Ich liebe dich, Phillippe. Ich liebe dich auf eine Weise und mit einer Intensität, die ich mir noch vor Jahren nicht einmal ansatzweise erträumt hätte. Jemanden so lieben zu können wie dich...“
Auch Phillippe traten Tränen in die Augen.
„Ich glaube, ich höre lieber auf, sonst überschwemmen wir noch alles.“, sagte sie halb lachend, halb weinend.
„Macht nichts, die Sahara war früher sowieso eine blühende Landschaft.“
Kichernd legte sie ihren Kopf auf seine Brust und schloss ihre Augen.
Während der nächsten beiden Tage legten sie weitere bronzezeitliche Hütten frei, dann erhielten sie Besuch. Am Nachmittag des dreizehnten Tages machte Judy ihn auf drei Männer – Berber vermutlich – aufmerksam, die gerade aus einer Limousine ausgestiegen waren und in seine Richtung kamen.
Phillippe unterbrach seine Arbeit und lief auf sie zu.
„Salam aleikum.“, sagte der Vorderste von ihnen.
„Aleikum salam.“, erwiderte Phillippe freundlich.
„Ich bin Mohammed ibn Sajif. Unser Stammesführer ist auf dich aufmerksam geworden. Auf das, was du hier tust. Er lädt dich auf einen Kaffee ein.“, sagte der Mann auf arabisch, das Phillippe problemlos verstand.
Phillippe überlegte. Was sollte er als seinen Namen nennen?
„Und ich bin Phillippe ibn Phillippe. Ich danke Euch und Eurem Oberhaupt für die Einladung. Aber entweder kommt meine Familie mit oder ich muss sie ablehnen.“
Der Mann nickte. „Dann ist deine Familie auch eingeladen.“
„Danke.“
Judy war inzwischen hinzu gekommen und schnappte das letzte Wort auf.
„‚Shokran’ kenne ich sogar.“, bezog sie sich auf das Dankeswort.
Sie folgten den bärtigen Männern in die Limousine und fuhren etwa zwanzig Minuten. Sie bogen noch einmal ab, dann hielt der Wagen an und sie stiegen aus.
Phillippe sah erstaunt, dass man sie zu einer kleinen Wüstenstadt gefahren hatte. Sie wurden nun in das größte Gebäude gebracht – zu dem am prachtvollsten gekleideten Mann.
„As-Salamu alaykum.“, sagte Phillippe nun setzte seine Finger nacheinander an die Brust, den Mund und die Stirn. Der Mann erwiderte den Gruß lächelnd und bedeutete ihnen, sich auf einen der ebenfalls prachtvollen Teppiche zu setzen.
Phillippe musterte die anderen Männer um sie herum.
„Ich danke Ihnen für die Einladung. Wir hätten auch nicht damit gerechnet, einen Berberstamm hier an dem Ort vorzufinden.“
„Ich bin Mohammed ibn Ahmed ibn Raschid ibn Fadlan.“, stellte er sich ihnen vor, Phillippe sagte ihm noch einmal die eigene Fassung.
Mit einem Wink bedeutete ihr Gastgeber einem Bediensteten, ihnen Kaffee einzuschenken.
Er musterte Judy, dann wandte er sich an Phillippe.
„Wonach graben Sie?“
„Nach einer bronzezeitlichen Siedlung. Wir sind auf der Suche nach alten Schriftrollen aus der Zeit der alten Pharaonen.“
Mohammed nickte. „Sie suchen nicht zufällig einen Mythos?“
Überrascht sah Phillippe den Berber an, welcher nun grinste.
„Ich habe gute Kontakte. Unser bester Geschäftsmann ist Paul de Boutricourt.“
Phillippe war nun noch überraschter als gerade eben noch, dann musste er grinsen und übersetzte für Judy. Auch Mohammed lächelte weiter.
„Hat mein Vater ihnen Bescheid gesagt?“
„Ja, wir wissen Bescheid. Ihr richtiger Name ist Phillippe de Boutricourt?“
„So ist es. Vergeben Sie mir, dass ich...“
Mohammed winkte ab. „Ihr Vater hat uns darauf vorbereitet. Sie können also ohne Probleme Phillippe ibn Paul sein.“
„Ihr Vater hat eine Nachricht für Sie. Es geht um die Leiche, die Sie gefunden haben.“
Mohammed sprach nun französisch statt arabisch.
„Wenn sie nun wissen wollen, warum er sich nicht an Sie direkt wendet, er hat seine Gründe. Ausserdem misstraut er den algerischen Behörden und auch der dortigen Polizei. Die Frau, die Sie gefunden haben, Phillippe, war ein Spitzel von Europol, die undercover bei Lydia gearbeitet hat. Offensichtlich wurde sie enttarnt und anschließend ohne Wasser in der Wüste ausgesetzt.“
Phillippe blies die Luft aus. „Verdammt!“, rutschte es aus ihm heraus.
„Ja. Es ist tragisch. Ihrem Vater ist es nun wichtig, dass Ihre Familie und wir Kontakte knüpfen. So etwas kann in der Wüste lebensnotwendig sein. Wenn sie mit dem Graben fertig sind, brechen Sie nach Ägypten auf?“
„Ja, das ist richtig.“
„Ich kann Ihnen gern anbieten, einige meiner Leute für die Grabung abzustellen. Dann könnten sie schneller fertig sein.“
Phillippe wiegelte ab. „Danke für Ihr Angebot, das ist jedoch nicht nötig. Nicht mehr. Wir sind fast durch. Aber eines Tages können wir vielleicht ins Geschäft kommen. So wie Sie und mein Vater. Womit handeln Sie denn mit ihm?“
Mohammed grinste wieder.
„Mit einigen Sachen, die wir ab und zu brauchen und die per normalen Weg kaum zu erhalten sind. Im Gegenzug verschaffen wir ihm ebenfalls Sachen aus der Wüste und auch Informationen.“
Phillippe trank seinen Kaffee aus.
„Sollten Sie also einige Dinge benötigen für Ihre Grabung, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.“
„Danke sehr.“
„Darf ich Ihrer Frau ein Geschenk machen?“
Erstaunt sah Phillippe von Mohammed zu Judy, die Lea an sich gedrückt hielt, dann wieder zu dem Berber.
„Gern, warum nicht?“
Mohammed winkte, ein weiterer Bediensteter kam mit einem Kissen zurück, auf dem eine Kette mit einem Edelstein lag.
Ein weiterer Wink – und eine Frau, die neben Mohammed saß, streifte Phillippes staunender Frau die Kette über.
„Das ist ein Wüstenedelstein, den es nur hier in der Gegend gibt.“
„Vielen Dank“, sagte Judy, die bislang still geblieben war, immer noch verblüfft. Normal trug sie außer ihrem Ehering überhaupt keinen Schmuck.
„Können Sie auf einem Pferd reiten, Mme. Broker?“
Mit erhobenen Augenbrauen sah Judy Mohammed an.
„Es ist ein paar Jahre her.“, sagte sie nach ein paar Sekunden.
„Dann werden Sie sich wieder erinnern. Ich gebe Euch zwei meiner schönsten Pferde. Damit kommt ihr zur Ausgrabungsstätte zurück.“
Wieder winkte er und zwei tiefschwarze Pferde wurden in den Raum geführt.
Judy klappte der Unterkiefer herunter. „Oh – sind die schön!“, entfuhr es ihr und sie erhob sich.
„Darf ich?“, fragte sie mit einem Blick auf Mohammed.
„Natürlich, Madame. Ich stelle sie euch zur Verfügung. Sobald ihr angekommen seid, finden sie selbst wieder zurück.“
„Sie sind wirklich wunderschön.“, bestätigte Phillippe, der natürlich die längste Zeit seines Lebens Pferde benutzt hatte.
„Ja“, nickte Mohammed. „Nun haben Sie zwei schöne Dinge, Phillippe. Eine wunderschöne Frau und schöne Pferde.“
Phillippe grinste, obwohl Judy Mohammeds Kompliment nicht gehört hatte, da sie an die Pferde herangetreten war und ihnen zuflüsterte.
„Da haben Sie recht.“
Mohammed schlürfte von seinem Kaffee.
„Ich möchte euch trotzdem bitten, noch ein paar Stunden zu bleiben und meine Gastfreundschaft zu genießen.“
„Nehmen wir sehr gern an, Mohammed. Sofern es meiner Tochter nicht plötzlich schlechter geht.“
Judy und Phillippe hatten noch weitere anderthalb Wochen in der algerischen Wüste zu schaffen, dann kontaktierten sie die Behörden, dass die Ausgrabungsstätte freigegeben sei und von nun an jedem zur Verfügung stehe. Zwei weitere Tage später kamen sie in Ägypten an. Ein Traum von Judy ging somit auch in Erfüllung.
Und auch Paul meldete sich wieder.
„Ich hoffe, Ihr habt ein paar schöne Tage gehabt. Ich freue mich auch, dass ihr meinen wichtigsten algerischen Geschäftspartner kennengelernt habt. Was die Schriftrollen betrifft und auch das andere Thema – dazu später mehr. Genießt erst einmal ein paar schöne Tage dort. Seht euch Gizeh und Karnak an – und, wenn ihr noch Lust habt, auch Abu Simbel. Wenn ihr dann soweit seid, meldet euch in Kairo im Museum für historische Kunstgegenstände.“
„Das machen wir, Paul. Bis bald.“
Phillippe und Judy verbrachten eine wunderschöne – wenn auch heiße – Woche in Ägypten. Er führte Frau und Tochter an jene Orte, die auch sein Vater vorgeschlagen hatte.
In der zweiten Juliwoche trafen sie wieder in Kairo ein, suchten sich ein Hotel und machten sich dann sogleich auf ins Museum. Sie sahen sich gerade einmal zehn Minuten um, als eine Frau - Ägypterin – an sie herantrat.
„Monsieur und Madame de Boutricourt?“
Sie nickten.
„Ihr Vater hat mich informiert, dass Sie kommen!“
Verblüfft sah Judy ihn an. „Sag mal – gibt’s irgendjemanden, den dein Vater nicht kennt?“
Die Frau lächelte.
„Mein Name ist Dr. Borat Tukash. Ich bin vor zwölf Jahren bei Ihrem Vater, Paul de Boutricourt, gewesen und habe seine Sammlung mit zwei Kollegen bestaunen dürfen. Seitdem haben wir ab und zu Kontakt. Und vor über einer Woche sagte er mir, dass Sie kommen würden. Ein Mann, der Paul sehr ähnelt und an seiner Seite eine bildhübsche Blondine, die seine Frau ist. Wie ich sehe, hat er nicht übertrieben.“
„Können wir dann...?“, versuchte Judy das Thema zu wechseln.
„Aber sicher. Sie suchen also eine bestimmte Schriftrolle, ohne zu wissen, wie die aussieht. Das ist fast schlimmer, als die berühmte Nadel im Heuhaufen.“
Phillippes Augen wurden schmal.
„Das würde bedeuten, dass mein Vater denkt, dass sie ausgegraben ist.“
Ihre Führerin nickte. „Die Chancen stehen nicht schlecht. Die meisten Gräber und andere Fundorte aus der antiken Zeit sind bekannt und die meisten Papyri, die gefunden worden, sind inzwischen digital erfasst.“
Sie musterte sie beide. „Vorausgesetzt, Sie können Hieroglyphen lesen.“
„Ein bisschen.“, erwiderte Judy zu Phillippes Verwunderung.
„Ja, richtig. Paul sagte, Sie sind Kunstgeschichtsdoktorin.“
Judy nickte.
„Könnten einige Papyri auch demotisch gefasst sein?“, horchte Phillippe.
„Mit Sicherheit.“, nickte die Frau.
Er atmete auf. „Gott sei Dank. Demotisch kann ich besser lesen als hieratisch beziehungsweise Hieroglyphen.“
„Ihr Vater wird Ihnen dabei helfen. Zu dritt sollte es schneller gehen. Kommen Sie!“
Sie wurden in einen Leseraum geführt, wo Sie es sich bequem machten. Auch Kaffee wurde ihnen gebracht.
Nun riefen sie Phillippes Vater.
„Dann können wir beginnen?“, horchte dieser.
„Wonach genau suchen wir, Paul?“, überlegte Judy. „Irgendwelche Punkte, auf die wir achten sollen?“
„Ich vermute“, sagte Phillippe anstelle seines Vaters, „alles was irgendwie auf nicht irdische Einflüsse hindeutet. Dazu Stichpunkte wie ‚Ewigkeit’, ‚Leben’ und dergleichen.“
„Damit bin ich einverstanden, Sohn. Schaut auch nach Sinnbildern für ‚Besucher’ oder ‚Götter’.“
„Verstanden, Paul.“
„Du gehst das Demotische durch, Honey?“
Phillippe bestätigte. „Ja, Cheri.“
Und holte sich den ersten digitalisierten Papyrus, welcher von irgendwelchen Priestern und ihrer Arbeit handelte. Sechstes Jahrhundert vor Christus. Als sein Vater bereits über eintausendfünfhundert Jahre alt gewesen war. Sein Vater. Kein geborener Franke wie er, Phillippe, sondern ein Sumerer.
Anfangs benötigte er noch zwei Minuten, um jede Seite zu analysieren, nach einer Weile schaffte er drei pro Minute.
Am gleichen Abend, acht Stunden später, saßen Phillippe und Judy todmüde beim Abendessen im Restaurant.
„Und – wie findest du es, dich durch Jahrtausende alte Schriftstücke durchzuarbeiten?“
Judy grinste mit müden Augen.
„Wahnsinnig aufregend. Ich habe zwar noch nichts gefunden, was annähernd auf einen derartigen Mythos hindeuten würde. Aber jeder zweite Papyrus handelt von irgendeinem Gott. Amun-Ra, Hoth, Sachmet, Tefnut, Seth, Nephtys und so weiter und so weiter. Und wenn es nicht um einen Gott geht, dann entweder um einen Pharao, um Priester, um Entdeckungsreisen, um Kriege, Handel und dergleichen. Bei dir auch nichts, oder, Honey?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Cheri. Ich habe das gleiche gefunden wie du.“
Lea fing wieder an zu schreien und mit einem Trick schaffte es Judy, dass niemand sah, wie sie sie stillte.
Eine Stunde später, nachdem sie sich sogar eine halbe Stunde Liebe gegönnt hatten, sanken sie todmüde ins Bett und zu ihrer eigenen Überraschung war Lea sogar die allererste Nacht ruhig, so dass Judy durchschlafen konnte.
Doch auch der Rest der Woche brachte in ihrer Suche keinen Erfolg.
Als sogar nach acht Tagen keiner von ihnen etwas gefunden hatte, begann Phillippe langsam zu zweifeln, dass sie überhaupt etwas über einen Mythos finden würden. Aber dann, am neunten Tag, kurz nach einer Mittagspause, schrie Judy kurz auf.
Phillippe war hellwach und beugte sich zu seiner Frau. Sie hatten sehr alten Papyrus vor sich, der noch von vor der Zeit Ramses dem Großen handelte.
„Es geht um irgendeine Gabe der Götter des Ostens.“, versuchte Judy zu übersetzen. „Aber mit einigen Formulierungen kann ich nichts anfangen. Paul – kannst du das?“
„Warte einen Moment, Judy“, hörten sie Pauls Stimme, „dann schließe ich mich mit deinem Signal gleich. So, erledigt. Ja, in der Tat, Judy. Es geht um ein Geschenk. Die Götter in einem fernen Land östlich der deshret sollen die dortigen Einheimischen mit einem Artefakt belohnt haben. Warte einen Moment. Das alte Mesopotamien liegt östlich von Ägypten. Und damit auch meine Heimat. Das würde passen, da ich ja in meiner Heimat gewesen bin, als ich mit zweiundvierzig, selbst für einen Sumerer ein hohes Alter, meine Sterblichkeit vermutlich verloren habe.“
„Erinnerst du dich noch an damalige Ereignisse, Vater?“
Fast glaubte er zu hören, wie sein Vater den Kopf schüttelte.
„Aus dieser Zeit – nein, überhaupt nicht mehr. Ich habe ja leider kein fotografisches Gedächtnis.“
Phillippe war aufgefallen, dass Judy angestrengt nachdachte.
„Was ist, Cheri?“
„Ich hätte da eine Theorie, Honey. Paul, es mag vielleicht etwas weit hergeholt sein, aber ich glaube fast, dass von dir auf diesem Papyrus die Rede ist. Irgendwie könntet ihr beziehungsweise du damals mit einem außerirdischen Artefakt in Kontakt gekommen sein. Wäre das möglich?“
„Ich kann es zumindest nicht ausschließen, Judy. Das Dumme ist nur, dass ich an das zweite Jahrtausend vor Christus kaum noch Erinnerungen habe. Von meinen ersten zweihundert Jahren noch weniger. Nur ein paar Fragmente noch.“
„Dann wäre es doch gut möglich, dass in diesem Artefakt irgendetwas gewesen ist, was dich verändert hat. Und du hast es damals nur nicht mitbekommen. Bis du immer älter geworden bist.“
„Das klingt schlüssig“, nickte Phillippe.
„Ich muss zugegeben, dass ich an deiner Theorie momentan keinen Fehler finde, Judy.“
„Nein, es ist sogar logisch.“, sagte Phillippe. „Dieses Artefakt könnte irgendwie neue genetische Informationen übertragen haben. Und somit hast du dein fünftes Basenpaar erhalten.“
„Richtig, Honey.“, nickte Judy.
Paul atmete tief durch.
„Nun denn. Dann fehlt nur noch der Hinweis auf die Geschichte, die ganz zum Schluss angegeben ist.“
Judy nickte. „Ja, ich sehe es. Aber was soll das für eine Geschichte sein, Paul?“
„Es könnte der Mythos sein, Judy. Wenn von einer Geschichte die Rede ist, ist das ein gutes Zeichen, das wir hier weitersuchen müssen.“
„Noch weiter suchen?“, horchte Judy. „Ohje.“
Phillippe grinste und küsste seine Frau herzhaft auf die Wange.
„Wir schaffen das, Judy.“, sage Paul. „Und diese Geschichte wird zu neunundneunzig Prozent auf demotisch verfasst sein.“
„Da werde ich keine große Hilfe sein, Paul.“
„Das macht nichts, Judy. Jetzt sind dein Mann und ich dran.“
Aber es vergingen noch einmal vier Tage, bis Phillippe nun fündig wurde.
„Hört euch das an! Das Geschenk der Götter macht wenige Menschen zu Auserwählten, in deren Verantwortung es liegt, die Geschicke der Menschheit zu leiten. Und dann gibt es hier einige Angaben, mit denen ich auf den ersten Blick nichts anfangen kann. Unterteilt in mehrere Blöcke. Insgesamt vierunddreißig.“
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen.
„Die Zahl vierunddreißig könnte die Anzahl der Unseren sein. Lydia und Raul mit eingeschlossen.“
„Wir sollen vierunddreißig sein?“, fragte Judy verblüfft.
„Nein“, sagten Phillippe und sein Vater gleichzeitig.
„Es könnte die Zahl sein“, sagte Paul, „wie viel wir irgend wann einmal sein werden.“
„Unsere Kinder?“, überlegte Phillippe.
Judy nickte. „Das wäre möglich.“
„Aber was ist das für ein seltsamer Schlüssel, der in jedem Paket steht?“
„Ich glaube, Sohn, dass das allerhöchste Mathematik ist. Möglicherweise wurden diese Angaben unmittelbar vom Artefakt übernommen. Auch wenn ich nicht ganz genau weiß, wie.“
„Und was soll dieser Schlüssel aussagen?“, wollte Judy wissen.
„Informationen über uns alle. Über jeden von uns, vermute ich. Ich werde mich um die Entschlüsselung kümmern.“, erklärte Paul.
„Und wie lange wird das dauern, weißt du das?“
„Ich kann leider nur mutmaßen, Judy. Wenn es mit unseren bekannten mathematischen Gleichungen kompatibel ist, vielleicht nur ein paar Tage oder ein paar Wochen.“
„Und wenn nicht? Es könnte... ich weiß nicht...“, überlegte Judy.
„Es könnte auf Quantenmechanik basieren oder gar noch komplexer sein. Und dann würden wir alt aussehen.“, sagte Phillippe.
„Du könntest Recht haben, Phillippe. Aber wenn es mit einem unserer mathematischen Systeme abbildbar ist, also es per Basis potenzierbar ist, könnten wir es bald schaffen.“
„Dann haben wir, um es abzuschließen, unsere Arbeit hier getan.“
„Ja, ganz recht. Judy, Phillippe, ich danke Euch für Eure Arbeit! Es hat sich herausgestellt, dass der Mythos tatsächlich eine alte Legende über ein altes Artefakt ist, das wahrscheinlich meiner Heimat Sumer vor über viertausend Jahren gemacht worden ist.“
„Also wenn es sich um ein außerirdisches Artefakt handelt, könnte das noch irgendwo da draußen im heutigen Irak fest verbuddelt sein.“
Phillippe rieb sich müde die Augen. „Ja, Cheri, es sei denn, es hat sich aufgelöst.“
„Noch einmal, ihr beiden – ich danke Euch für Eure Arbeit! Ihr wollt jetzt sicherlich nach Hause.“
„Allerdings. Jeder einzelne von uns. Aber es war eine sehr schöne und interessante Reise, Paul.“
„Ihr werdet noch viele schöne Reisen machen, Judy. Ich wünsche Euch eine schöne Heimreise.“
4 Jahre später. 2019.
Die Flughafenanzeige blätterte und nun endlich wurde auch beim Flug aus New York ‚gelandet’ angezeigt.
Phillippe stand im Wartebereich des Terminals 2 beim Pariser Flughafen und beobachtete die Anzeigen. Auf seinem rechten Arm hockte ein kleines blondes Mädchen und stierte neugierig in die Umgebung, in seiner kleinen Hand eine rote Rose, die es gleich seiner Mutter überbringen würde.
Judy Broker war für eine Woche nach Latein- und Nordamerika geflogen, um dort an zwei Vorträgen über Kunstgeschichte teilzunehmen – als Zuhörer. Begleitet wurde sie von Sophie, mit der sie nach wie vor eng befreundet war.
Es dauerte trotzdem noch zwanzig Minuten, bis die ersten mit ihrem Gesamtgepäck durch die Tür kamen.
Phillippe setzte Lea ab und wartete nun darauf, dass seine Frau jeden Augenblick mit ihrem Gepäck erschienen würde.
„Kommt Mommy jetzt?“, fragte Lea.
„Jeden Moment, Schatz.“
Und als hätte Judy auf dieses Stichwort gewartet – die Tür Schwang auf und zusammen liefen sie und Sophie zu ihnen herein.
„Mommy!“
Lea lief los und war fünf Sekunden später bei ihrer Mutter, die sie gleich in die Arme schloss und hochnahm. Sie küsste ihre Tochter herzhaft auf beide Wangen und nahm dann auch ihren Mann in die Arme.
Ihr Kuss war süß wie eh und je und Phillippe war froh, seine Frau wieder zu haben.
„Hallo Honey, du hast mir gefehlt.“
„Cheri, du hast mir auch gefehlt.“
Lea blieb natürlich erst einmal auf dem Arm ihrer Mutter, dann wurde auch Sophie begrüßt.
„Erzähl mal – Honey, hast du es wahrgemacht?“, erkundigte sich Judy.
Phillippe grinste. „Wenn du das Shuttle meinst, Cheri – ja, ich habe es wahrgemacht.“
Judys Augen strahlten. „War es teuer?“
Phillippe zuckte die Schultern. „Nicht für uns. Aber im Gegensatz zu einem normalen Auto – ja.“
„Hm, Leute, ich muss ganz kurz.“, entschuldigte sich Sophie und verschwand in einer nahestehenden Toilette.
„Komm her, Honey“, sagte Judy, zog Phillippe zu sich und küsste ihn wieder.
Dann sah sie zu Lea und drückte dieser auch noch einen Kuss auf.
„Und sag mal – beim Fliegen mit dem Ding wird einem nicht schlecht?“
Wieder zuckte er die Schultern. „Das ist die erste offiziell zugelassene Modellreihe. Ich denke, die haben die Dinger soweit ausreichend stabilisiert.“
„Wir werden sehen.“
Fünfzehn Minuten hatten sie unter den staunenden Blicken der beiden Frauen das Shuttle beladen. Die Automatik berechnete automatisch den neuen Schwerpunkt – und hob langsam und gefühlvoll ab.
„Und wie hoch ist die Flughöhe?“, fragte Judy neugierig.
„Vierhundert Meter, Cheri.“
Natürlich musste Phillippe auch nicht steuern – das Shuttle steuerte zur Hälfte automatisch – und zur Hälfte bei Leitstrahl.
„So, ihr beiden Honeys“, sagte Judy, während sie flogen, „Sophie und ich sind euch in einem Detail voraus. Ich hatte zwar überlegt, es euch bereits letzte Woche zu sagen, aber ich wollte dann doch warten, bis wir wieder zurück sind.“
„Worum geht’s, Cheri?“
„Dass ich die Übelkeit bereits hinter mir habe.“
Es lag wohl an Phillippes fehlender Erfahrung in diesem Punkt, dass er fast eine halbe Minute benötigte, bis er verstand. Inzwischen fuhr sich Judy auch symbolisch über den Bauch.
Phillippes Augen wurden fast doppelt so groß.
„Wir... bekommen... wieder... ein Baby?“
Judys Gesicht verzog sich fast schmerzlich, dann nickte sie. Phillippe beugte sich etwas zu ruckartig zu seiner Frau – das Shuttle schwankte kurz – und küsste sie euphorisch.
Dann beugte sich Judy zu der nun auch strahlenden Lea.
„Ja, Honey, bald hast du ein Geschwisterchen. Freust du dich?“
Natürlich – Lea nickte, als ob sie eine riesige Torte bekäme. Judy küsste ihre Tochter noch einmal auf die Wange, dann setzte sie sich wieder aufrecht hin und ergriff glücklich Phillippes Hand.
„Also die Vorträge“, begann Judy, während sie ihr Töchterchen auf dem Schoß hatte, „bei denen ich zugegen war, haben mir definitiv geholfen, besser einzuschätzen, ob die Kunstschätze, die Lydia hat, echt sind oder nicht. Wären es Duplikate gewesen, so müssten wir über den Wert nicht sprechen. Aber...“
„Aber es sind keine?“, horchte Phillippe.
„Nein, Honey. Es ist alles echt.“
„Das wundert mich nicht. In eintausend Jahren kann man viel stehlen oder sonst irgendwie an sich bringen. Auf wie viel schätzt du den Wert, Cheri?“
„Ungefähr zwölf Milliarden.“
Phillippe blies aus. In einer solchen Höhe hätte er den Wert von allein Lydias Kunstschätzen nicht vermutet.
Judy schaltete nun auch den Hologrammprojektor – den es auch frisch auf dem Markt gab – an – und Paul erschien.
„Hast du mitgehört, Paul?“
„Habe ich, Judy. Damit wäre dieser Punkt endgültig bestätigt. Lydia van Bourg hat die größten Kunstschätze der Welt bei sich. Deine Aufgabe Judy, ist es nun, anhand unserer Spionagebilder die Objekte zu klassifizieren. Wir müssen auch herausfinden, welche eventuell tatsächlich auf der Liste der vermissten Kunstgegenstände sind und welche ihr tatsächlich gehören könnten. Aber auf jeden Fall ist nun die Arbeit von fast vier Jahren beendet.“
Judy nickte. „So ist es, Paul.“
„Wie geht es weiter, Vater?“, horchte Phillippe. „Untersuchen wir demnächst den Rest von Lydias Vermögen? Das dürfte inzwischen bei über einhundertzehn Milliarden liegen.“
Sein Vater nickte.
„Deine Schätzung dürfte richtig sein. Wobei feststehen dürfte, dass fünfundfünfzig Prozent dieses Vermögens bei den fünf italienischen Banken sein dürfte, die ihr gehören. Dazu kommen noch achtzehn Versicherungsgesellschaften, die ihr ebenfalls gehören.“
Phillippe rieb sich die Augen.
„Ich fürchte, wir brauchen mehrere unterschiedliche Szenarien, wollen wir Lydia in den Bankrott treiben.“
„Keine Sorge, Sohn. Wir haben genug Zeit, den Plan auszuarbeiten. Ein früherer Meister von mir hat einmal gesagt, den perfekten Kampf führt man nur, wenn der Gegner fällt, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde. Wir müssen Lydia dazu bringen, freiwillig ihr Vermögen abzudrücken.“
Phillippe grinste. „Dein früherer Meister war wohl Sun Tsu?“
„Ja, er war es. Gut geraten, Phillippe.“
Er fühlte die Judys Hand tätschelnd auf seiner.
„Ich hätte einen Vorschlag, Paul. Sobald wir exakt wissen, was Lydia in welcher Form gehört, könnten wir über eine Art Spiel verschiedene Szenarien durchgehen, wie man eventuell Verluste erzwingen kann.“
„Das ist eine gute Idee, Judy.“, bestätigte ihr Phillippes Vater. „So etwas Ähnliches habe ich bereits im Sinn. Aber es kann noch ein paar Jahre dauern, das auszuarbeiten.“
„So“, meinte Judy nach der Viererrunde. „Ich werde mal nach Sebastien sehen. Sophie ist bei ihrem Mann?“
Phillippe nickte. Sophie, die seit anderthalb Jahren verheiratet war, hatte sich ein Haus gegenüber von Phillippes und Judys großem Domizil genommen, arbeitete aber natürlich nach wie vor für die beiden.
Das große Anwesen von Judy und Phillippe war nicht gerade bescheiden. Es ummaß zweihundertfünfzig Meter in der Breite und vierhundert Meter in der Länge. Es hatte zwei Jahre Bauzeit benötigt, um diesen großen Komplex, der nicht nur vierzig Meter in die Höhe ragte, sondern auch fünf unterirdische Etagen hatte, zu errichten. Der Gebäude selbst hatte achtzehn Millionen gekostet, die Einrichtung selbst fast das Doppelte.
Es hatte einen großen Sportbereich, einen Forschungsbereich, ein Schwimmbecken, eine Sauna und noch ein paar weitere kleine Bereiche zum Leben.
Sophie und ihr Mann Francois hatten jedoch darauf bestanden, nicht bei Philippe zu wohnen, hatten ihr Haus aber gerade mal einhundert Meter gegenüber errichtet.
Lediglich Sebastien hatte seinen Krankenbereich im Erdgeschoss.
Nachdem sie Lea ins Bett gesteckt hatte, rutschte Judy zu ihrem Mann auf den Schoß.
„Also, Honey. Ich habe eine neue Form der Liebe entdeckt. Möchtest du es wissen?“
Phillippe sah seine Frau neugierig an.
„Diese eine Woche war für unsere Beziehung sehr wichtig. Ich schlage sogar vor, dass wir ab sofort zwei bis dreimal pro Jahr so eine Woche durchziehen. Erst dann, wenn wir Sehnsucht verspüren, wissen wir wieder, wie sehr wir uns lieben.“
Ein sanfter Kuss folgte.
„Dann ist also Sehnsucht diese neue Form der Liebe, Cheri?“
Judy wiegte ihren Kopf
„Abstand und Sehnsucht. Diese Kombination. Aber zum Schluss habe ich mich wieder sehr darauf gefreut, wieder in deinen Armen zu sein.“
Phillippe nickte und tätschelte ihren Bauch.
„Wir müssen mal einen Arzt fragen, wie lange du schwanger in die Sauna darfst.“
Judy grinste.
„Darauf habe ich mich auch schon gefreut!“
Wenige Tage später hockte Phillippe wieder im Rechenzentrum und prüfte die Dechiffrierung ihrer vor vier Jahren in Nordafrika entdeckten Papyri.
Die Analyse hatte ergeben, dass die Form der Decodierung sogar vierdimensional war. Selbst ein Supercomputer des einundzwanzigsten Jahrhunderts benötigte weit über einhundert Jahre, um diese ungeheuer komplizierten Formen zu entschlüsseln. Ursprünglich hatten sie sogar bei eineinhalbtausend Jahren gelegen, bis einige Mathematiker ihnen ein spezielles Programm geschrieben hatten, das die Zeit auf einhunderteinundachtzig Jahre gesenkt hatte. Für einen normalen Menschen mehr als eine Lebensspanne.
Aber dadurch war ihnen auch klar geworden, dass die Quelle all dessen außerirdisch sein musste, wie auch Judy vermutet hatte.
Der Sommer zweitausendneunzehn hatte endgültig begonnen und Judy hockte zusammen mit Sophie über Familienbildern. Ihre Freundin hatte immer großen Spaß dran, Judy selbst sah sich die Bilder mit gemischten Gefühlen an.
„Eines Tages wird Lea Fragen stellen.“, meinte sie. „‚Mom, wieso sehen du und Papa immer noch so jung aus? Und warum werden die anderen Menschen älter?’“
„Du weißt nicht, wie du es ihr erklären sollst.“, sagte Sophie.
„Ja“, nickte Judy. „Vor allem wenn du auch älter wirst. Auch wenn du immer meine beste Freundin bleiben wirst, Schatz, Lea wird irgendwann sehen, dass ihr Familie anders ist.“
„Nun“, erklärte Sophie, „irgendwann werde ich mit silbernem Haar da sitzen und du wirst immer noch so aussehen wie heute.“
Judy lehnte sich zurück und nahm ihr rechtes Bein in den Schneidersitz.
„Und das Paradoxe ist“, sagte Sophie weiter, „dass es dir mehr zu schaffen macht als mir. Schatz – du hast einen wundervollen Mann und eine tolle Familie. Mit jedem anderen Mann wärst du dieses Wagnis nicht eingegangen.“
Judy sah zu ihrer Freundin und nickte. „Das stimmt. Und du ahnst nicht, wie froh ich bin, dass ich mit dir darüber reden kann.“
Sophie drückte Judy an sich. „Dazu bin ich doch da, Schatz.“
„Und wie fühlst du dich dabei, dass du über diesen Punkt nicht mit Francois reden kannst?“
Sophie zuckte die Schultern. „Dieses eine Geheimnis habe ich. Aber er hat auch eines.“
„Und wann geht’s bei euch los?“, horchte Judy und strich ihrer Freundin über den Bauch.
Zuerst grinste Sophie, dann lachte sie. „Schatz – das hast du mich in den letzten zwölf Monaten drei mal gefragt. Bald, meine Süße, bald.“
Judy sah auf die Uhr.
„Ich muss Lea vom Kindergarten abholen. Und dann ist auch schon Training.“
In der Tat hatten Judy und Sophie vor über drei Jahren zusammen den Trainerschein für Aikido gemacht und leiteten sogar inzwischen ein eigenes Studio, das eine halbe Stunde mit dem Auto beziehungsweise zehn Minuten mit dem Shuttle entfernt war.
„Dann treffen wir uns im Studio?“
„Ja, wie üblich. Ich fliege mit Phillippe mit.“
Judy nahm sich – da sie inzwischen ein weiteres Shuttle erstanden hatten – ihr Fluggerät und flog in Richtung der Kindertagesstätte, in der Lea tagsüber untergebracht war. Es war ihr und Phillippe sehr wichtig, dass Lea viel sozialen Kontakt mit anderen Kindern hatte. Es reichte schon, dass sie auf die eine bestimmte Art und Weise anders war. Dieser Umstand würde ihr noch früh genug bewusst werden. Sie sollte eine fröhliche Kindheit haben.
Und auch Phillippe war im Training nun schon soweit, die letzte Schülerprüfung zu machen. Judy hatte ihn mit großen Augen angesehen, dass er den Trainerschein dann bei Sophie machen wollte, hatte aber dann eingesehen, dass es so besser war. Er wollte nicht, dass sie ihm unbeabsichtigt irgendwelche Punkte durchgehen ließ.
„Ich mache mir Sorgen um Sebastien.“, sagte Judy am Abend beim Essen.
„Wie meinst du das?“
„Ich habe das Gefühl, dass er mir seit einiger Zeit aus dem Weg geht. Wenn wir uns begegnen, ist er zwar so freundlich und zuvorkommend wie immer, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass er die Häufigkeit unserer Begegnungen bewusst niedrig hält.“
Phillippe schwieg für einen Moment. Aber er wusste, dass Judy recht hatte. Und er wusste es deswegen, da Sebastien mit ihm schon darüber gesprochen hatte.
Judy hatte gemerkt, dass Phillippe seine Gabel in der Luft hielt.
„Weißt du irgendwas, was ich nicht weiß?“
Phillippe schwieg weiter, nickte dann aber.
„Honey?“
„Er hat etwas Angst.“
„Angst?“, horchte Judy und hob ihre Augenbrauen hoch. „Ich weiß, dass er wegen seiner Krankheit etwas Angst hat. Und deswegen vermeidet er zu häufigen Kontakt mit mir?“
Phillippe atmete tief durch.
„Es ist eine andere Angst.“
Seine Frau sah ihn lauernd an.
„Er... du weißt doch, dass er auf diese Neuseeländerin steht. Vom Typ her.“
„Dunkel vielleicht, ja.“
„Ihr Name ist Cheyenne Rayon.“
„Hm.“
„Hast du sie schon mal gesehen?“
„Ich glaub nicht.“
Phillippe sprach ein paar Worte zu dem Raumcomputer, dann erschien ein holographes Bild einer blonden Frau.
„Das ist sie.“, erklärte er.
„Wow“, sagte Lea, „die ist fast so schön wie du, Mommy!“
Und in der Tat konnte man auf den ersten Blick meinen, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Neuseeländerin und Judy bestand.
Diese tätschelte ihrer Tochter die Wange. „Danke, Honey.“
Dann begriff sie langsam. Sie sah abwechselnd zu Phillippe und zu dem Hologramm.
„Es ist doch hoffentlich nicht das, wovon ich denke, dass es das ist?“
Phillippe entschloss sich, es herauszulassen.
„Er hat Angst, er könnte sich in dich verlieben.“
Judy setzte ihre Hand vor den Mund.
„Wer verliebt sich in dich, Mommy?“, fragte Lea.
Judy atmete tief durch.
„Sebastien hat offensichtlich sehr positive Gefühle für mich, Honey. Und genau davor hat er Angst. Er weiß, dass ich nie mehr als Freundschaft für ihn empfinden werde.“
„Weil du Papa liebst?“
Judy grinste. „Ja, Honey, weil ich Papa liebe. Und dich natürlich.“
Wieder tätschelte sie die Wange ihrer Tochter.
Am späten Abend standen Judy und Phillippe unter der Dusche und liebten sich. Judy stand mit der Brust zur Duschen-Wand und hatte Phillippes Männlichkeit in sich aufgenommen. Da sie ihre beiden Körper nun inzwischen ziemlich gut kannten, wusste er genau, wie er sich bewegen musste, um ihr ein Höchstmaß an Genuss zu bieten. Den er natürlich auch hatte. Er genoss das Gefühl, ihren Körper zu reiben, ihre Haut zu schmecken und ihre duftenden Haare zu riechen – und natürlich auch, sich in ihr zu bewegen. Er fühlte ihre Hand an seinem Becken, wodurch sie ihn sogar ein wenig steuerte. Diese Löffelchen-Stellung war eine von fast einem Dutzend Stellungen, die sie beide für ihren Liebesgenuss im Laufe der Jahre für sich entdeckt hatten. Und - sie redeten über ausnahmslos alles. Was ihnen gut gefiel, was ihnen weniger gefiel, wie sie ihm helfen konnte, so lange wie möglich den Höhepunkt hinauszuschieben, wann sie welche Art Höhepunkt erreichte und was sie dabei fühlte...
Eine kleine Ewigkeit später hockten sie umschlungen am Duschrand und ließen das Erlebte langsam ausklingen. Phillippe sah, dass seine Frau ungeheuer entspannt war, ihre Augen hatte sie geschlossen.
Seine Hand glitt durch ihr Haar, seine Lippen berührten ihr Ohr.
„Cheri?“, horchte er leise.
„Hm?“
„Wie wirkt sich eigentlich deine Schwangerschaft auf Dein Genussempfinden aus?“
Sie öffnete ihre Augen und sah ihn relativ selig an.
„Im Moment alles in Ordnung, Honey. Wenn sich etwas ändert, sage ich dir Bescheid wie immer, hm?“
Ihre rechte Hand fuhr sanft über seine Wange, während er ihr stumm zunickte.
Nun merkte Phillippe, wie müde er war, nahm Judy auf seine Arme und trug sie ins Bett.
„Es macht mich doch etwas traurig, dass Sebastien nicht so glücklich ist.“, sagte sie am nächsten Morgen beim Frühstück, als sie ihren Capuccino genoss.
„Er braucht eine Frau.“, meinte Phillippe. „Sebastien ist über vierzig. Es wird langsam Zeit. Aber ich denke, er sollte erstmal seine Krankheit überwinden.“
„Wieso erstmal, Cheri? Das kann man doch wunderbar gleichzeitig tun. Das Problem dürfte eher sein, dass sich Sebastien nicht so oft raus traut. Ich meine – er sieht alles andere als schlecht aus, hat eine angenehme Ausstrahlung, ist sympathisch, da sollte es doch nicht wenige Kandidatinnen geben. Er darf nur nicht auf das Unmögliche hoffen, dass seine Angebetete eines Tages vor der Tür steht.“
„Dieser Punkt kann aber auch nach hinten los gehen.“, merkte Phillippe an. „Mal angenommen er trifft sie, aber sie wäre so ganz anders als er sie sich vorgestellt hat – mit etwas Pech ist er hinterher noch depressiver.“
„Aber wer weiß, vielleicht müssen wir ihm einfach einen kleinen Schubs geben...Er muss einfach unter die Leute kommen.“
Phillippe trank ebenfalls seinen Kaffee leer.
„Wie wäre es denn mit einer Selbsthilfegruppe?“
Judy sah ihn mit großen Augen an. „Du meinst, wo sich Krebspatienten treffen? Die Idee ist gut, man sollte es ihm mal ganz unverbindlich vorschlagen. So, ich bringe Lea zum Kindergarten.“
Am Freitag der gleichen Woche riefen sie schließlich Sebastien zu sich, der dann aus einem hinteren Wohn-Komplex zu ihnen kam.
„Hallo Judy, Phillippe“, begrüßte er sie und tauschte auch mit Judy ein übliches Küsschen aus.
„Wie geht es dir?“, horchte Phillippes Frau.
„Ganz gut soweit, ich habe inzwischen gelernt, mit dem Krebs zu leben. Und dank Euch lebe ich ja auch noch.“
„Judy möchte dir einen Vorschlag machen, Sebastien.“
Sein Kumpel hob die Augenbrauen etwas hoch. „Ich höre.“
„Du lebst noch, Sebastien, ja. Aber man kann so leben und man kann so leben. Wenn du verstehst, was ich meine.“
„Nun, ich ahne es vielleicht. Du meinst, dass ich mich zu sehr hier eingrabe.“
Judy nickte und hielt ihre Hände flach an einander, um ihre Worte noch zu unterstreichen. „So in etwa. Sebastien – lass uns dir helfen, mehr aus deinem Leben zu machen. Wir möchten dir daher den Vorschlag machen, dass wir drei ab sofort einmal die Woche in einen Tanzclub gehen. Ab heute.“
Judy ging auf ihn zu. „Solange, bis du eine Partnerin hast und dann noch darüber hinaus.“
Aufgrund seiner Menschenkenntnis spürte Phillippe, wie in Sebastien etwas zu arbeiten begann. Dann erschien nach einer Minute ein leichtes Lächeln auf den Lippen seines Kumpels und auch sein Gesicht schien sich zu entspannen.
„Na gut, es hört sich zumindest interessant an.“
Noch einmal spielte Phillippe seine Menschenkenntnis aus.
„Judy wird dir auch den einen oder anderen Tanz spendieren, Sebastien.“
Judy nickte. „Sehr gern. Aber vorher machen wir aus dir erst einmal einen Menschen. Wenn du verstehst...“
Sie lächelte und deutete Phillippe an, sich darum zu kümmern.
Eine Viertelstunde später, nachdem sich die beiden Männer herausgeputzt hatten, begutachtete Judy mit ihrer Nase das Ergebnis bei Sebastien und nickte zufrieden.
„Sehr gut.“
Und es war nicht gerade ein billiger Club, in den sie abstiegen. Egal, wohin sie liefen, um sich ein Plätzchen zu suchen, reihenweise schauten die Männer Judy hinterher, auch noch, als sie endlich einen Platz gefunden hatten.
Nur wenige Minuten später kam eine Kellnerin und nahm eine erste Bestellung auf. Judy nahm ein Wasser, Phillippe und Sebastien eine Flasche Wein.
Phillippe deutete schließlich seiner Frau per Augenwink, ruhig mit Sebastien auf die Tanzfläche zu gehen. Sie verstand, erhob sich und nahm seinen Kumpel mit, mit dem sie zehn Meter weiter in eine etwas langsamere Schrittfolge verfiel. Und wieder ließen ein paar nahe Tänzer ihre Augen zu Judy gleiten.
Phillippe sah sich inzwischen in Ruhe um – und entdeckte zu seiner Überraschung etwa fünfundzwanzig Meter weiter Judys Ex-Freund Jason Narrows, der offenbar mit zwei Frauen an seinen Seiten in einer Ecke hockte. Phillippe versuchte, noch mehr aus dem, was er sah, herauszulesen, bis Judy und Sebastien wieder in der eigenen Sitzecke auftauchten.
„Danke sehr, Judy.“
„Sehr gern.“
Judy setzte sich nun direkt neben Phillippe.
„Überraschung.“, sagte er und deutete in Jasons Ecke.
Judy war nun tatsächlich etwas verblüfft. „Oh. Ich habe lange nichts von ihm gehört.“
„Gehören die beiden Frauen zu ihm?“, überlegte sie.
Phillippe nickte. „Mit Sicherheit.“
Judy atmete tief durch.
„Dann dürften sie noch weniger Verstand haben als er. Keine Frau mit etwas Selbstwertgefühl erlaubt eine Nebenbuhlerin mit gleichen Rechten.“
Er nickte. „Das ist richtig.“
„Oh – er hat uns entdeckt.“
Und tatsächlich konnten sie sehen, wie Jason seinen Begleiterinnen zuflüsterte, sich erhob – und zu ihnen herunter kam.
„Hallo Judy – lange nicht gesehen.“
„Hallo Jason.“, sagte sie höflich.
„Ok, ihr Süßen, das hier ist Judy, meine Ex.“, sagte er zu den beiden Frauen links und rechts neben sich.
„Hallo Judy“ – „Hi“
Judy, die sich etwas zurückgelehnt hatte, drehte ihre rechte Hand zum Gruß.
„Wie geht es dir, Jason?“
„Sie fragt, wie es mir geht.“, meinte er wieder zu seinen Begleiterinnen, die ihn nun anlächelten.
Phillippe spürte Verwunderung bei seiner Frau, deren Gesichtsausdruck gleiches verriet.
„Sie ist sehr, sehr hübsch.“, ließ die eine von sich hören.
„Ja.“, sagte er, als ob ihm langweilig wäre.
„Kommt – wir gehen zu mir.“
„Gern, Darling.“, sagten beide Frauen fast wie aus einem Mund – danach verschwanden sie mit Judys Ex-Freund.
Jetzt sah Phillippe, dass Judys Mund offen stand. Sie wirkte fast verstört.
„Ich... kann nicht glauben, was ich gerade gesehen habe...“, schüttelte sie den Kopf.
„Das war dein Ex-Freund, Judy?“, horchte Sebastien.
Sie nickte. Dann drehte sie ihren Kopf zu Phillippe.
„Kannst du mir erklären, was wir gerade gesehen haben?“
Er wiegte seinen Kopf.
„Ich kann’s versuchen. So wie es aussieht, hat Jason geistig ein oder zwei Schritte zurück getan. Wenn man wie er zwei Frauen mit diesem scheinbaren IQ hat, muss sein soziales Bedürfnis stark gesunken sein.“
„Aber so war er doch früher nicht!“
„Wie gut hast du ihn damals gekannt, Cheri?“
Seine Frau sah ihn überlegend an. „Offensichtlich nicht gut genug.“
„Lasst und bitte das Thema wechseln.“
Phillippe grinste. „Gern.“
„Wo ist eigentlich die Toilette?“, erkundigte sich seine Frau.
„Ich glaube, da hinten.“
„Ah ich seh’s.“
Judy verließ die Sitzecke und verschwand erneut unter den staunenden Blicken vieler Männer in der Tanzmenge.
„Also Sebastien – siehst du denn schon Frauen, die dir gefallen würden?“
Sein Freund wiegte den Kopf.
„Eventuell dort hinten die Blonde.“
Phillippe folgte dem Kopfwink seines Kumpels und sah dann schnell, wen dieser meinte.
„Willst du sie ansprechen oder soll ich es für dich tun?“
„Ich mach das schon. Aber was soll ich ihr sagen?“
Phillippe sah nachdenklich seinen Freund an. Dann hinüber zu jener Blondine, die mit zwei weiteren – brünetten - Begleiterinnen fünfzehn Meter von ihnen entfernt sich unterhielt. Er seufzte. Den ersten Kontakt hatte er schon hunderte Male geprobt, jedoch war das in früheren Jahrhunderten gewesen. Würde er hier eine Frau mit ‚edle Dame’ oder ‚gnädige Frau’ ansprechen, würde er eher das Gegenteil erreichen.
Er winkte Sebastien zu sich und flüsterte ihm schließlich einige Dinge ins Ohr.
Sein Freund nickte anschließend. „Ok, ich versuch’s. Danke, Phillippe.“
Gespannt sah er seinem Kumpel hinterher, wie er zu der Dreierrunde lief – und der erste Kontakt offensichtlich besser vonstatten ging als erwartet.
Dafür kam Judy zurück – offenbar in ungewollter Begleitung. Ein junger Mann mit Sonnenbrille und lässiger, fast aufreizender Kleidung, hielt sie immer wieder an und schien sie etwas zu fragen.
Bis Judy in Hörweite kam.
„He – wie viele ‚nein’s brauchen Sie, um das Erste zu verstehen?“
„Ich verstehe nicht, wo das Problem ist, Süße.“
„Das Problem ist, dass Sie das Wort ‚nein’ nicht verstehen.“
Judy sah kurz zu Phillippe und bedeutete ihm mit einem Blick, sitzen zu bleiben.
„Komm schon, Baby, lass mich nicht betteln.“
Nun griff er ihren rechten Arm.
„Lass sofort los oder es wird schmerzhaft.“
Da er nicht reagierte, geschah nun das, womit der aufdringliche junge Mann nicht rechnete. Ehe er sich versah, hatte Judy ihre Hände leicht versetzt – und ihr Gegenüber machte ungewollt einen weiten Salto. Um sie herum wurde es ruhig, dann bekam sie von einigen Zuschauern sogar Applaus.
Der junge Mann sah sie verblüfft und wohl auch etwas geschockt an, wurde dann, während Judy sich wieder setzte, von zwei Clubangestellten zur Rede gestellt.
„Machos“, sagte Judy halb amüsiert, halb genervt.
„Gute Arbeit.“, sagte er und küsste sie auf die Wange.
Doch ganz vorbei war es offensichtlich nicht, denn die beiden Clubmitarbeiter kamen mit dem jungen Mann in der Mitte zu ihnen.
„Wir bitten Sie um Entschuldigung für die Störung, Madame. Alain hier möchte Ihnen auch etwas mitteilen.“
„Ich höre.“, erklärte Judy.
„Ich bitte um Entschuldigung.“, sagte – Alain – in einem Ton, der aber eher auf das Gegenteil deutete.
„Schon vergessen.“
Einer der beiden Angestellten führte Alain nun erst einmal weit weg, der andere blieb noch.
„So etwas kann ab und zu passieren, leider. Alain wird manchmal schwach bei besonders attraktiven Frauen und zieht dann seine Macho-Tour durch.“
Ein Kellner kam und brachte ihnen ein Glas Champagner.
„Der geht aufs Haus. Amüsieren Sie sich weiter.“
„Guter Laden.“, sagte Judy schmunzelnd, als der Mann wieder weg war. „Zumindest der Service hat ordentliche Manieren. Da ich aber schwanger bin – mußt du den Champagner trinken, Cheri. Ach sag mal – wo ist denn Sebastien?“
Phillippe deutete auf seinen Freund, der inzwischen mit der Blondine allein redete.
„Super!“, freute sich Judy. „Ganz allein?“
Er zwinkerte seiner Frau zu. „Fast.“
Sie drehte seinen Kopf zu sich und küsste ihn fest. „Du bist ein Schatz!“
Dann fasste sie seine Hand und zog ihn nun auch auf die Tanzfläche.
Das Wochenende verging relativ ereignislos und am nächsten Montag führte Phillippe einige Telefonate, bis er schließlich hatte, was er suchte. Der etwas seltsame Auftritt von Jason Narrows am Abend zuvor hatte seinen Instinkt angeregt. Und dieser sagte ihm, dass mit Judys Ex-Freund etwas geschehen sein musste. Und nachdem er das letzte Telefongespräch beendet hatte, hatte er Gewissheit.
Judy saß an ihrer Arbeit – sie hatte drei große Monitore und auch ein Mikroskop an ihrem Platz und besah sich gerade eine Inschrift auf einer altertümlichen Tafel.
„Cheri?“
Er lehnte sich neben den Platz seiner Frau.
Judy deutete auf die Keilschrifttafel, die sie gerade untersuchte.
„Die Rede eines Priesters des Gottes Marduk – die Zeit des großen Königs Nebukadnezar II. Sechstes Jahrhundert vor Christus.“
Mit nicht wenig Staunen sah Phillippe auf die Tafel.
„Wolltest du etwas, Honey?“
Er nickte. „Ja. Ich habe ein paar Antworten. Wir wissen jetzt, was mit Jason los ist.“
Judys Augen wurden groß. „Oh?“
Er gab ihr den Zettel.
„Ein Autounfall vor zwei Jahren? Mit zwei Monaten Koma. Sein Gehirn ist beschädigt worden.“
Sie schlug ihre Augen nieder. „Der Ärmste.“
Phillippe nickte. „Ja. Er hat jetzt das geistige Niveau eines Vorschulkindes.“
Ihre Hand ergriff die Seine. „Danke, Honey.“
„Na klar.“
Als Judy am Mittwoch mit Lea vom Kindergarten kam, hatten sie Besuch.
Leas Augen leuchteten und sie sprang dem Besuch in die Arme.
„Großvater!“
Paul lächelte und nahm seine Enkelin mühelos in die Arme.
„Hallo Paul“, begrüßte auch Judy ihren Schwiegervater.
„Ich habe eine neue Reise für euch“, sagte er Minuten später beim Kaffee. „Genau genommen sind es mehrere. Ich habe letzte Woche im Internet Bruchstücke eines alten Pergaments entdeckt, das wahrscheinlich aus den letzten Tagen des alten Babyloniens stammt. Es ist in altem Persisch verfasst, mein Instinkt sagt mir, dass es möglicherweise aus der Zeit von König Dareios stammt.“
Judy grinste und sah erfreut Phillippe an.
„Der Grund, warum mich dieses Pergamentfragment so interessiert, ist, weil dabei von einem wertvollen Artefakt die Rede ist.“
„Sprechen wir jetzt von dem gleichen Artefakt das ich vermute?“, horchte Phillippes Frau.
„Ich hoffe es, Judy, ich hoffe es.“
„Da du von Babylonien sprichst, Vater“, überlegte Phillippe, „heißt das, dass wir noch Bagdad fliegen?“
Paul de Boutricourt nickte. „So ist es. Bagdad ist inzwischen eine Touristenmetropole, allein schon aus historischen Gründen. Es wird euch gefallen.“
Judy wiegte ihren Kopf. „Also das Mesopotamien der Moderne.“
In der Tat war es seit mehreren Jahren endlich friedlich im Irak, so dass das Land endlich wieder erblühen konnte. Hunderttausende von Touristen strömten seit Jahren in das ehemalige Zweistromland – und auch die Archäologie kam seitdem voran. Bereits drei der früheren Stadtstaaten – Uruk, Lagasch und Ninive waren mehr oder weniger freigelegt und bescherten dem Ruf des Landes immer wieder kleinere Sensationen.
Judy trank ihren Kaffee aus und füllte die Tasse ihres Schwiegervaters nach.
„Dann werde ich Lea für zwei bis drei Wochen vom Kindergarten abmelden.“
Schnell stand fest, dass Sophie und Sebastien wieder zurückbleiben und die Stellung halten würden.
Und so landeten Judy, Phillippe und Lea bereits am Freitag in Bagdad und checkten wie üblich in ein Hotel ein, das nur fünf Kilometer vom Flughafen entfernt war.
Zu Judys Leidwesen sprach hier niemand französisch und die paar wenigen Worte arabisch, die sie seitdem gelernt hatte, würden ihr kaum weiter helfen.
„Ich muss dringend arabisch lernen.“, stellte sie fest, während sie zum Hotel fuhren. „Wo müssen wir morgen hin?“
„In das Museum für Geschichte. Laut meinem Vater sind die Pergamentbruchstücke, die er im Internet gefunden hat, bei Ausgrabungen im alten Uruk entdeckt worden und dann im Museum gesammelt worden.“
Judy nickte. „Nur dass wir uns ausgerechnet wieder den Sommer ausgesucht haben, um herumzustöbern...“
Sie sah zu Phillippe. „Was machen wir heute Abend? Wir könnten uns ein Restaurant mit etwas Folklore suchen.“
Gesagt, getan. Eine Stunde später hatten sie ein gemütliches Restaurant gefunden und sahen erst einmal zu, wie die Sonne unterging.
„Wir sind in der Heimat deines Vaters, Honey.“, sagte Judy und massierte Phillippes Hand.
Er nickte. „Ja, Cheri. Hier haben vor Jahrtausenden die Sumerer, Akkadier und Assyrer um die Vorherrschaft gekämpft.“
„Und morgen suchen wir wieder in alten Schriftrollen herum. Beziehungsweise in alten Keilschrifttafeln.“
Am nächsten Morgen fuhren sie zum Museum, nannten einem der Angestellten ihren Wunsch, der sie dann in einen Computerraum führte. Wenige Minuten später konnten sie gegen eine Gebühr dann die ersten digitalen Pergamentstücke begutachten und zu ihrer Freude waren diese sogar schon kategorisiert, so dass sie das Gesuchte sehr bald hatten.
Neugierig besahen sie sich das Stück, das Phillippes Vater aufgefallen war.
„Mein Vater hat Recht gehabt. Viertes Jahrhundert vor Christus.“
„Woran siehst du das, Honey?“
Phillippe deutete auf eine bestimmte Stelle auf dem Pergament.
„Hier. Al-Iskandar.“, sagte er und las weiter. „Altes Persisch. Im Altgriechischen heißt es Aléxandros o Mégas.“
Judy grinste ihn an, während sie Lea auf den Schoß nahm. „Alexander der Große! Und was heißt der Rest?“
„Es geht um Beutegut aus Babylon. Darunter soll ein seltsames, nicht-persisches Stück dabei gewesen sein, das Alexander mitgenommen hat.“
„Also nach Babylon ist Alexander über mehrere Umwege nach Indien gegangen und dann wieder zurück.“
Phillippe verzog nachdenklich seinen Mund.
„Hier steht leider nicht, wohin er damit ist. Es könnte genauso gut Ägypten sein.“
Ein Angestellter kam zu ihnen, um sich nach Wünschen zu erkundigen.
„Ja, in der Tat hätten wir da etwas. Können Sie uns einen Gefallen tun und uns benachrichtigen, wenn neue Bruchstücke auftauchen, die zu diesem hier passen?“
Der Mann zuckte die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich so viel Zeit erübrigen kann.“
Phillippe holte Geld hervor und drücke dem Mann fünfhundert Euro in die Hand und versprach ihm nach Erfolg noch einmal fünfhundert.
Sie verließen das Museum und kontaktierten Paul, den sie auf den neuesten Stand brachten.
„Alexander also?“, horchte sein Vater. „Dann ist es im Bereich des Möglichen, dass er, sollte es sich um das Artefakt handeln, es entweder nach Indien oder nach Alexandria gebracht hat.“
„Ja, Vater, das denken wir auch.“
Paul verabschiedete sich vorerst, und die Drei gingen in Richtung Basar.
Bis Phillippe auf einmal langsamer wurde und innehielt. Ein uralter Instinkt hatte angeschlagen.
„Was ist, Honey?“
Judys wache Augen sahen ihn fragend an.
„Ein seltsames Gefühl. Das ich schon seit fast zweihundertfünfzig Jahren nicht mehr hatte.“
„Dann kann es kein Sandsturm sein.“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Nein. Lass uns langsam weiterlaufen.“
„In Ordnung. Und was hat damals dieses Gefühl bei dir bedeutet?“
„Dass wir verfolgt werden – beziehungsweise man beobachtet uns. Sieh ganz normal weiter gerade aus, Cheri“
Sie waren nun am Basar angekommen und musterten die fast endlosen Standreihen – und hörten auch einige Marktschreier, die in der einheimischen Sprache irgendwelche Dinge anpriesen.
„Ob es Spione von Lydia oder Raul sind?“, überlegte Judy. „Oder gar sie selbst?“
Phillippe schüttelte erneut den Kopf. „Letzteres kaum. Aber ich vermute ersteres.“
Seine Frau zuckte die Schultern, was die schlafende Lea an ihrer Schulter kaum störte.
„Also wenn sie die Passagierlisten verfolgt, kann es natürlich sehr gut sein, dass sie wissen will, was wir hier wollen.“
„Sehr gut möglich, Cheri.“
„Was schlägst du vor, Honey?“
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder, wir finden heraus, um wen es sich handelt und stellen denjenigen zur Rede, obwohl wir dabei kaum etwas herauskriegen dürften. Oder aber wir tun so, als hätten wir sie nicht gemerkt. In diesem Fall müssen wir eine harmlose Touristenfamilie spielen, die sich lediglich ein paar Sehenswürdigkeiten ansieht, um nach ein oder zwei Wochen Urlaub wieder zurückzufliegen.“
Judy massierte nachdenklich ihren Nacken und beobachtete das Treiben der Einheimischen sowie der Touristen.
„Ich schlage vor, viel von Letzterem und ein wenig von Ersterem. Wir sollten schon vorsichtig herauskriegen, um wen es sich handelt, danach können wir immer noch die Harmlosen spielen.“
Phillippe nickte einverstanden.
Und so schlenderten sie von Stand zu Stand und schauten hier und staunten dort. Und immer wenn Phillippe scheinbar auf die Uhr sah, beobachtete er die Menschenmenge hinter sich. Aufgrund seiner großen Erfahrung und den Haken die sie schlugen, konnte er bis zu drei Männer ausmachen, die sie abwechselnd zu überwachen schienen. Von da an war ihm klar, dass tatsächlich Lydia dahintersteckte.
„Also entweder sie wird fahrlässig oder sie glaubt, ich wäre eingerostet in der Gegenspionage.“
Judy grinste. „Sie glaubt wohl, du willst ein normales Leben führen.“
Lea schlug die Augen auf. „Ich habe Hunger und Durst.“, sagte sie und rieb sich ihre kleinen Augen.
„In Ordnung, Honey. Wir gehen in ein Restaurant. Es ist sowieso Mittag.“
Phillippe setzte sich so, dass er die Straße gut überblicken konnte – und sah einen der drei Männer sich schräg gegenüber setzen. Zwar mit dem Rücken zu ihm, aber das nützte nichts mehr.
Während Lea durstig etwas Tee trank, überlegte Phillippe den weiteren Tagesablauf. Er überlegte, ob sie ihnen eine Falle stellen sollten, verwarf diesen Punkt aber sogleich wieder.
„Wie viel gibt es denn hier noch zu sehen?“, horchte Judy, die ihn trotz der Situation recht entspannt ansah.
„Nicht so sonderlich viel. In Bagdad ist in den letzten Jahrhunderten viel zerstört worden.“
Eine Stunde später hatten sie sich gesättigt und brachen wieder auf. Inzwischen konnte Phillippe sogar relativ gut vorhersagen, welcher der Männer sich wie verhielt und wie abgelöst wurde.
Am frühen Nachmittag trafen sie schließlich wieder im Hotel ein. Phillippes einzige Sorge – ihr Hotelzimmer hätte durchwühlt sein können - bewahrheitete sich nicht.
Judy und Phillippe beschlossen, sogar etwas zu trödeln. So legten sie sich an den Hotelpool, während Lea fünf Meter weiter im Kinderbereich spielte.
Phillippe versuchte, etwas abzuschalten, was ihm aber nicht sehr leicht fiel. Auch bei Judy sah er, dass ihr Blick meistens an ihm vorbei Richtung Lea ging.
Auch die nächsten beiden Tage verliefen ziemlich ereignislos. Sie nahmen an einem Familienprogramm teil, das ihnen durchaus Spaß machte, machten einen Ausflug mit und aßen zwischendurch. Dann, aber vierten Tag, erhielten sie aus dem Museum Nachricht.
Phillippe schnappte sich seine beiden Frauen und lief so auffällig wie möglich ins Museum – erneut unter den Augen von – neuen – Aufpassern.
Der Angestellte im Museum zeigte ihnen die neuen Entdeckungen – zwei weitere Fragmente, die wunderbar das Bisherige ergänzten. Das Fragment war nun zu geschätzten zweiundachtzig Prozent vollständig, was jedoch völlig ausreichte.
Phillippe entlohnte den Mann sogar mit doppelter Gage, der nun mit leuchtenden Augen versicherte, sollten sie noch etwas benötigen, er könne ihnen in jedem Fall weiterhelfen.
Anschließend las er den altpersischen Text, der die fünfte altertümliche Sprache darstellte, die Phillippe soweit beherrschte. Schnell stand fest, dass Alexander der Große jenen nicht-persischen und auch nicht-griechischen Gegenstand nach der ersten Eroberung Babylons mitgenommen hatte – Richtung Südosten.
Wenn es sich um das Artefakt handelte, dann konnte es überall sein. Der gesamte Weg bis Indien war gewaltig groß. Mehrere Millionen Quadratkilometer. Und ohne zu wissen, wonach sie genau suchten beziehungsweise wo sie suchen sollten – das hatte kaum Sinn.
„Honey“, sagte Judy, die auch nachgedacht zu haben schien. „Mir ist da ein Gedanke gekommen.“
„Erzähl.“
„Also erst einmal denke ich, dass Alexander diesen Gegenstand überall mit dabei hatte. Es wäre sicherlich sehr gut möglich, dass er es als Geschenk irgendeinem König überreicht hat. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Er wird es behalten haben. Der zweite Punkt ist – so, wie in den letzten Jahrhunderten Kunstgegenstände nachgemacht worden sind, wäre es gut möglich, dass mehrere Kopien dieses Artefakts existieren.“
Phillippe sah seine Frau mit offenem Mund an. Daran hatte er gar nicht gedacht!
„Und das könnte bedeuten“, führte er ihre Gedanken weiter, „dass sogar Lydia es hat.“
„Ganz genau“, nickte Judy.
Phillippe grinste. „Ich liebe dich!“
Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft.
„Dann könnte es weiterhin bedeuten, falls sie es hat, könnte es auf einem der Spionagebilder drauf sein.“
Phillippe wiegte seinen Kopf. „Das ist möglich, aber wissen nicht, wie es aussieht. Du musst alle Bilder, die wir haben, nach Epoche und Herkunft kategorisieren. Das, was übrig bleibt, da müsste es dann dabei sein.“
Judy verzog verdrossen ihren Mund. „Bei der Geschwindigkeit, in der ich voran komme, kann das noch Monate dauern.“
„Bleiben wir noch zwei, drei Tage hier?“
„Natürlich, Honey. Allein für Lea.“
Abends im Bett überraschte er sie mit einer kühnen Idee.
„Wenn wir wieder in Frankreich sind, könnten wir Lydia anrufen und ihr sagen, dass wir Bescheid wissen. Was hältst du davon?“
„Du willst was??“, sagte Judy laut und drehte sich zu ihm um.
„Lydia anrufen. Dann weiß sie, dass wir keine Angst haben.“
Eine kleine Ewigkeit sah sie ihn nachdenklich an, dann verzog sich ihr Mund.
„Du hast Recht, Cheri, das könnte funktionieren. Sie wird aber möglicherweise wissen wollen, was wir hier gemacht haben, und dann sollten wir ihr so weit wie nötig, die Wahrheit sagen. Dann wird sie in der Tat merken, dass wir keine Angst haben. Haben wir ja auch nicht.“
„Eben.“
„Gott bist du gut!“
Judy lachte fast, während sie sich an ihn kuschelte.
Wenige Tage später hing Phillippe am Telefon, Judy hörte erwartungsvoll mit. Es dauerte etwas, bis man ihn zu Lydia durchstellte.
„Ja?“, hörte er schließlich ihre Stimme.
„Ich bin von dir etwas enttäuscht, Lydia. Du wirst nachlässig.“
Er glaubte fast, ihre Überraschung zu hören.
„Phillippe! Nein so eine Überraschung! Wie meinst du das – ich werde nachlässig?“
„Du schickst sechs Leute los, die mich und meine Familie in Bagdad beschatten, nur damit sie dir hinterher sagen, dass wir zweimal im Museum waren und ansonsten Urlaub gemacht haben.“
Sie konnten Lydia seufzen hören. Ein altes Zeichen bei ihr, wenn sie sich ärgerte.
„Vielleicht war es ja auch ein Test. Aber ich freue mich, dass du nichts verlernt hast. Ist denn dein Frauchen bei dir?“
„Natürlich, Lydia“, antwortete Judy selbst.
„Tu mir einen Gefallen, Lydia – lass die sechs Männer am Leben.“
Sie hörten sie wieder lachen.
„Unter einer Bedingung, Phillippe. Was hast du da unten wirklich gesucht?“
Er sah Judy an, die nickte.
„Eine Quelle von mir ist auf ein paar alte Pergamentstücke gestoßen aus der Zeit von Alexander dem Großen. Wir suchen einen alten, wertvollen Gegenstand aus dieser Epoche.“
„Ihr sucht einen alten Kunstgegenstand? Ich habe massenweise davon. Vielleicht habe ich ja den, den ihr sucht.“
„Nun, wir wissen nicht, wie er aussieht. Das ist das Problem.“
„Tja, da kann ich euch wohl auch nicht weiterhelfen. Aber deine Frau ist ja Kunstdoktorin. Sie sollte damit keine Probleme haben, wenn er auftaucht. Kann ich sonst noch etwas für euch tun?“
Phillippe sah seine Frau an und überlegte bereits, ob sie die Verbindung beenden sollten, als Lydia sich noch einmal meldete.
„Ach – Judy, meine Teure?“
„Ja, Lydia?“
„Tun Sie mir den Gefallen und schreiben Sie mir, wenn Sie den gesuchten Gegenstand gefunden haben. Ich bin neugierig. Lebt wohl.“
Minuten lang sahen sich Phillippe und Judy an, um ihre Schlüsse aus dem Gespräch zu ziehen.
„Ok, sie weiß von deinem Doktortitel, aber bei ihren Beziehungen ist das kein großes Problem.“
„Sie war sehr offen, Honey.“
Er nickte. „Was bedeutet, dass sie dich durchaus respektiert. Und sich vorstellen kann, noch einmal mit dir in Kontakt zu treten.“
Judy verdrehte ihre Augen. „Na darauf kann ich verzichten. Aber ein anderer Punkt noch – sie weiß jetzt, dass ihre Spionage uns nicht die Laune verderben kann.“
„Auch richtig.“
„Ob sie diese Männer wirklich am Leben lässt?“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Und selbst wenn nicht – werden wir das kaum mitkriegen.“
Judy kletterte zu ihm und kuschelte sich an ihn.
Wenige Tage später überraschte Judy ihre Tochter, dass sie sie erstens gemeinsam mit Phillippe aus dem Kindergarten abholte, dann fuhren sie – ins Schwimmparadies von Paris. Ein Komplex, der locker einen Quadratkilometer ummaß.
Lea wurde in einen Minibikini gesteckt, allerdings noch ohne Oberteil. Zusätzlich steckten Judy und Phillippe ihr auf die Ärmchen noch Schwimmflügel auf, dann – nach einer kurzen Dusche - nahmen sie sie ihn Nichtschwimmer-Becken, wo Lea sich auszutoben begann. Beide setzten sich einige Meter auseinander und warteten darauf, dass Lea zwischen ihnen hin und her paddelte.
Eine kleine Ewigkeit später führten sie sie schließlich zu den Rutschen. Judy rutschte selbst zuerst, um Lea unten aufzufangen. Unbeachtet von ihr standen wenige Meter hinter ihr drei, vier junge Männer um die Mitte zwanzig, die, kaum, das Judy am Ende der Rutsche stand, zu johlen begannen, als sie Phillippes Frau sahen.
Judy warf nur einen kurzen Blick zurück, um dann kopfschüttelnd für Lea die Arme aufzuhalten. Diese rutschte vergnügt herunter und fiel mit einem kleinen Jauchzer ihrer Mutter in die Arme.
Anschließend rutschte Phillippe herunter und Judy lief mit Lea die Treppe herunter und das Spiel begann erneut.
Lea rutschte mehrere Male, dann, als sie wieder mit ihrer Mutter nach oben lief, begann sie plötzlich in Übermut schneller zu laufen, obwohl Judy sie ermahnte. Dann passierte es. Lea rutschte aus und fiel mit dem Kopf gegen eine Kante.
Vor lauter Schreck und Schmerz fing Lea zu brüllen an, wie es sich für eine Vierjährige gehörte. Judy war wenige Momente später bei ihr und sah entsetzt, dass Lea an der Stelle blutete – eine Platzwunde.
„Oh Gott“
Schnell hatte sie sie an sich genommen und sah aus den Augenwinkeln, wie ein Bademeister zu ihr hoch gelaufen kam. Auch Phillippe war schnell bei ihr und untersuchte die Wunde – die sich bereits begonnen hatte zu schließen.
„Kommen Sie, Madame“, sagte der herbei geeilte Bademeister. „Ich bringe sie ins Büro.“
Unschlüssig sah Judy ihren Mann an, der erst einmal nickte. Also folgten sie den Mann, der, im Büro angekommen, einem weiteren Angestellten die Anweisung gab, die kleine Unfallstelle vom Blut zu reinigen.
Dann besah er sich Leas Stirn, tupfte das Blut ab – und starrte das Mädchen an wie ein Weltwunder.
Lea hatte inzwischen schon wieder aufgehört, zu weinen, Judy tätschelte und küsste ihre Wange.
„Was... wo... wo ist die Wunde?“, sagte der Mann verdutzt. „Das habe ich ja noch nie gesehen!“
„Passiert das öfters, dass sich Wunden bei Ihrer Tochter so schnell schließen?“
Judy sah verlegen zu Phillippe – wie sollten sie dem Mann etwas erklären, was sich nur schwer beschreiben ließ?
Nun streichelte der Mann selbst Lea übers Gesicht und schloss plötzlich die Augen, als ob er nachdenken müsste.
Die Augen wieder offen, sah er Lea mit einem Lächeln an. „Na siehst du, ist doch schon nichts mehr zu sehen. Oder tut es noch weh?“
Lea schüttelte den Kopf. „Na siehst du!“
Er stand auf. „Sie können sie wieder mitnehmen.“
Judy schien nicht zu merken, dass ihr der Mund offen stand. Hatte der Mann etwa vergessen, dass Lea gerade mit einer blutenden Wunde hereingekommen war?
Phillippe zog Frau und Tochter schnell aus dem Büro und lief mit ihre die Treppen hoch.
„Kannst du mir erklären, was gerade passiert ist?“
„Du meinst, dass vor seinen Augen ein Wunder geschieht, dass er kurz darauf schon wieder vergessen hat?“
„Ja...“
Er schüttelte den Kopf.
„Rutschen! Ich will weiter rutschen!“, rief Lea.
„Du möchtest weiter rutschen?“, horchte Judy und grinste wieder.
Sie liefen zum Rutschenanfang und nun setzten sie sich zu dritt auf die Rutsche und kamen mit einer großen Wasserlawine unten an.
Nachdem sie die todmüde Lea am frühen Abend nach dem Essen ins Bett gesteckt hatten, kam Sebastien gegen neun Uhr zu ihnen.
Phillippe klatschte sich mit seinem Freund ab, Judy bekam wie üblich zwei Freundschaftsküsschen, dann setzte er sich zu ihnen.
„Was gibt’s Neues, Sebastien?“, horchte Judy.
„Ich habe jemanden kennen gelernt.“, sagte er, jedoch ohne allzu sehr begeistert zu sein.
„Das ist schön!“, rief Judy.
Phillippe aber kannte seinen Freund gut genug.
„Die, die du angesprochen hattest?“
Sebastien nickte. „Ja. Es sind ja inzwischen zwei Wochen vergangen wieder, die ich ohne euch dort war...“
„Wir gehen wieder zusammen hin, Sebastien.“, erklärte Judy.
„Sehr gern. Ich weiß nur nicht, was ich mit der Situation anfangen soll. Sie gefällt mir durchaus und ich unterhalte mich auch sehr gut mit ihr, aber...“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Sebastien – nach drei Wochen kann man noch niemanden kennen. Das braucht Zeit.“
„Hauptsache ist doch erstmal, dass sie Dir gefällt!“, bemerkte Judy. „Ob Ihr beide zusammen passt, das ergibt sich erst später. Ach – wie heißt sie eigentlich?“
„Ihr Name ist Dominique. Ich würde sie euch übermorgen gern vorstellen, wenn ihr wieder mitkommen solltet.“
Phillippe nickte.
„Das machen wir, Sebastien.“
„Wir verkuppeln dich schon, da mach dir mal keine Sorgen!“, sagte Judy grinsend.
Auch Sebastien grinste jetzt.
„Da haben wir so ein Ding“, murmelte Judy am nächsten Vormittag, als sie wieder über den ausspionierten Bildern hockte, die den Kunstschatz von Lydia zeigten.
Es war ein dunkelgefärbter längerer Gegenstand, der entfernt an einen Zylinder erinnerte und um sich herum mehrere seltsame ornamentartige Gebilde hatte, fünf Stück an der Zahl.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie die Abbildung.
„Nicht sumerisch oder akkadisch, genauso wenig assyrisch oder phoenizisch. Auch nicht altgriechisch oder römisch. Ebenfalls auszuschließen sind das alte China und Russland.“
Bis zum frühen Nachmittag suchte sie im Internet nach vergleichbaren Kunstgegenständen aus dem Bereich der Mayas, Inkas und Azteken, aus dem afrikanischen Bereich.
Nachdem sie am späten Nachmittag vom Training wieder gekommen war, ging sie noch einmal die Ergebnisse durch und besprach sie mit Phillippe.
„Du konntest sie also noch keiner eindeutigen Gruppe zuordnen?“, horchte er.
Judy schüttelte den Kopf.
„Nein, Honey.“
Phillippe musterte das Bild. Sollte es die Möglichkeit sein, dass es sich um das gesuchte Artefakt handelt? Jenes, das seinem Vater vor über viertausend Jahren die seltsame Gabe der Unsterblichkeit verliehen hatte?
„Ich habe alle bekannten Gruppen von Kunstobjekten ausgeschlossen.“
Etwas müde rutschte Judy herum und legte ihren Kopf und ihre blonde Mähne auf Phillippes Schoss.
„Wenn es so selten ist, dürften zumindest ein paar Kopien existieren.“, mutmaßte er.
Judy nickte. „Ich lass bereits suchen, ob es welche gibt.“
„Ach übrigens – ich beginne in vier Wochen mit dem Trainerschein.“
Judys Kopf drehte sich noch weiter herum. Sie grinste. „Ich werde Sophie sagen, sie soll dich hart ran nehmen. Aber du schaffst es trotzdem, Honey.“
„Natürlich, Cheri.“, grinste er. „Bei dem Tempo werden wir in zehn bis fünfzehn Jahren Meister im Aikido sein.“
Judy stimmte ihm mit einem ‚hm’ zu, drehte ihren Kopf zu ihm und schloss erst einmal die Augen, während Phillippe den Fernseher einschaltete.
Dann war es wieder Freitag, sie setzten sich in die gleiche Ecke und bald schon kam Sebastien mit Dominique an, die sich zu ihnen setzte.
Was nun Phillippe nach der Begrüßung sofort auffiel, war, dass die Bekanntschaft seines Freundes nicht wenig Schmuck an sich trug. Insgesamt bis zu sieben Ringe an den Fingern, zwei Ketten und auch Armreife waren vorhanden.
Das hatte zwar noch nichts zu sagen, ließ aber einen ersten Blick auf die Gewohnheiten der Frau werfen.
Der nächste Punkt, der auffiel, war, dass Dominique viel redete.
Sie steht gern im Mittelpunkt, dachte Phillippe. Es dauerte eine ganze halbe Stunde, bis sie das Thema von sich lenkte.
„Und – was macht ihr so?“
„Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite für meinen Mann“, erklärte Judy und tätschelte Phillippes Hand.
„Hast du da studiert?“, horchte Dominique.
Phillippe war etwas überrascht, dass sie einfach so ins ‚du’ übergegangen war. Judy schien es freundlich zu übersehen.
„Ja, ich bin Dr. cult.“
„Cool. Und du bist selbstständig?“, fragte sie jetzt Phillippe.
„Das ist richtig.“, nickte er. „Ich bin eigentlich in den verschiedensten Bereichen tätig.“
„Und Sebastien arbeitet auch für dich?“
Er nickte.
Dann sah Dominique Judy an und lächelte. Seine Frau lächelte höflich zurück.
Und jetzt begann sich für Phillippe ein erstes Bild abzuzeichnen. Dominique war eine einfache Frau mit durchschnittlicher Intelligenz, die gern leicht und gut lebte – dafür aber auch gern mit wohlhabenden Männern zusammen war. An diesem Punkt wurde ihm bewusst, dass – sofern Sebastien nicht akribisch darauf bestand – eine Beziehung der beiden kaum eine Chance haben würde.
Sie schien eine Frau ohne klare Zielsetzung zu sein, die morgen schon wieder das Gegenteil dessen machen konnte, was sie heute tat. Eine Frau, die wahrscheinlich wenig Ahnung vom Leben und noch weniger von irgendwelchen Risiken zu haben schien.
Phillippe, der Dominique zwar nicht direkt ansah, aber sie dennoch beobachtete, begann, wegen der Art und Weise, wie sie Judy ansah, zu mutmaßen, dass Dominique sogar auch auf Frauen stehen konnte. Judy massierte sogar etwas verkrampft seine Hand.
Schließlich schnappte sie sich doch noch Sebastien und zog diesen auf die Tanzfläche.
Philippe merkte, dass Judy aufatmete.
„Denkst du dasselbe wie ich?“
Er zuckte mit den Schultern. „Sie ist entweder bi oder lesbisch.“
„Also doch. Armer Sebastien.“
Phillippe nickte. „Er wird eine andere finden. Es sei denn, er will so eine.“
Judy schüttelte den Kopf. „Mit Sicherheit nicht. Sebastien hat Intelligenz, sie nicht.“
Zehn Minuten später kamen beide zurück, Dominique bat Judy sie für ein Make-Up auf die Toilette zu begleiten, dem diese nach einigem Zögern nachkam.
Nach weiteren zehn Minuten kam Judy allein zurück und rang sogar etwas um Fassung.
„Wo ist Dominique, Judy?“, horchte Sebastien.
Judy überlegte einen Moment, dann sah sie in die Augen ihres gemeinsamen Freundes.
„Sebastien – es ist sehr gut möglich, dass du Dominique nicht wiedersehen wirst.“
„Was ist passiert?“, wollte Phillippe wissen.
„Sie hat gefragt, ob sie mich... küssen darf.“, erklärte Judy deutlich verlegen. „Ich habe ihr etwas beim Make-Up geholfen und sie kam immer wieder darauf zurück. Sie wollte mir sogar einen Ring schenken für einen Kuss. Und als ich sie wegen dir ansprach, meinte sie“, und wandte sich nun direkt an Sebastien, „du seiest süß und interessant. Dann merkte ich an, dass deine finanziellen Gegebenheiten keinen luxuriösen Lebensstil ermöglichen – sie sah mich erschrocken an und war weg.“
Phillippe sah, seine Frau trotz der nicht sehr hellen Disco-Beleuchtung sehr viel röter im Gesicht war als üblich.
Sebastien blies aus.
„Es tut mir so leid.“, sagte sie und strich über Sebastiens Hand.
„Macht nichts. Möglicherweise habt ihr mir sogar ein paar Monate geschenkt.“
Judy sah Phillippe an, der verstand und nickte.
Sie küsste ihn und erhob sich. „Komm, Sebastien – lass uns etwas Schwung in den Laden bringen.“
Sein Freund grinste und erhob sich.
Vier Wochen später, der September hatte gerade begonnen, hatte die Suche von Judy ein Ende.
„Es gibt zusätzlich vier gleiche Gegenstände, sagst du?“, horchte Phillippe.
Seine Frau nickte. „Ja, Honey. Vier Kopien. Optisch nicht von einander zu unterscheiden.“
Phillippe nahm seinen Nachmittagskaffee mit auf die Couch.
„Wir müssten sie rein theoretisch irgendwie scannen können. Die Dinger sind entweder aus Ton oder aus sonst irgendeinem Material. Aber falls tatsächlich das Artefakt dabei sein sollte...“
„... müsste der Scanner unbekannte Daten auswerfen.“, ging Judy seinen Gedankengang weiter.
Phillippe nickte und sah auf die Uhr.
„Lea abholen?“, horchte er.
„Sophie ist gleich mit ihr da“, schüttelte Judy ihre blonde Mähne.
„Dann lass uns“, sagte er und kam auf das erste Thema zurück, „die Besitzer der Kopien anschreiben und auf mögliche Verkaufsoptionen anfragen.“
Judy nickte. „Ich habe noch eine zusätzliche Idee. Nächste Woche beginnt doch die große Kunstausstellung – vielleicht können wir den einen oder anderen Besitzer dazu einladen und eine mögliche Transaktion dort durchführen.“
Phillippe grinste. „Das ist sogar eine ausgezeichnete Idee.“
Er stand auf. „Wie hoch denkst du die Kosten pro Stück?“
Seine Frau wiegte ihren Kopf. „Schwer zu sagen. Vorsichtig geschätzt würde ich sagen - anderthalb bis zwei Millionen.“
Phillippe nickte. „Geht klar.“
Judy trat an ihn heran, schlang ihren einen Arm um seine Taille, mit der anderen Hand ergriff sie sein Kinn und küsste ihn fest.
Noch während er ihre Zärtlichkeit genoß, flog die Tür auf und Lea lief herein.
„Mommy-Mommy! Schau mal, was wir heute gemacht haben.“
Judy nahm sie mühelos hoch, küsste Lea beherzt auf die Wange und nahm – eine Art Papierblume, die ihre Tochter auch ausgemalt hatte – entgegen.
„Danke, Honey. Das ist ganz lieb von dir.“
Sie küsste sie noch einmal fest auf die Wange. Umgekehrt anschließend auch.
„Und das ist für Papa.“, sagte sie nun und nahm ihre andere Hand hoch und überreichte Phillippe nun eine zweite Blume, die allerdings mit anderen Farben ausgemalt war.
Auch Phillippe küsste seine Tochter nun auf die Wange und bekam ebenfalls ein Küsschen.
Am nächsten Tag erhielten sie zwei Absagen bezüglich eines möglichen Kaufes, aber jeweilige Treffen sollten dennoch auf der Ausstellung stattfinden.
Der Beginn der Ausstellung nahte und voller Neugier betraten sie zu viert das große Gebäude. Phillippe hatte Lea auf dem Arm, die die Umgebung mit großen Augen bestaunte. Es dauerte nun noch eine Stunde, bis sie endlich diejenige Frau trafen, die bereit war, ihr Stück abzugeben.
„Dr. Broker?“, horchte die brünette Frau Anfang vierzig.
„Madame Vaugier?“
Sie nickte.
„Haben Sie es dabei?“
„Natürlich“, nickte sie und gab dem Mann hinter ihr einen Wink, der nun einen eingepackten Gegenstand auspackte.
Mit leuchtenden Augen nahm Judy ihn nun endlich an sich.
„Circa fünf bis sechs Kilo. Eine Tonarbeit.“
„Selbstverständlich.“
Was bedeute, dass es eine Kopie war.
„Sie sprachen von einem möglichen Kaufinteresse, Dr. Broker?“
Judy nickte. „Ja, das ist richtig. Wie schätzen Sie den Wert ein?“
„Nun, ich habe mich natürlich beraten lassen.“, erklärte Madame Vaugier. „Mein Bekannter sagte – wenigstens fünfhundert- bis achthunderttausend, auch weil eine genaue Klassifizierung nicht möglich ist.“
Judy grinste Phillippe an, der auch schmunzeln musste.
„Wir bieten Ihnen zwei Millionen Euro.“
Der Frau war die Überraschung anzusehen, es leuchtete in ihren Augen.
„Selbstverständlich – sehr gern.“
Hatte sie aber nun angenommen, dass Phillippe derjenige mit dem Scheckbuch war, so hatte sie sich getäuscht. Judy griff in ihre Innentasche und holte das wertvolle Formularbuch heraus.
Phillippe nahm nun das Kunstobjekt an sich – und gab Judy bezüglich Ton als der schnellen Materialfeststellung recht – samt Leinen und Tragetasche.
Eine Stunde später hatten sie auch die anderen Besitzer der Kopien hinter sich und stellten fest, dass alle Objekte aus Ton waren.
„Damit steht fest – falls das Original tatsächlich außerirdisch und damit unser gesuchtes Artefakt sein sollte – hat es entweder Lydia oder der letzte Besitzer, der sich noch nicht gemeldet hat. Oder aber wir liegen komplett falsch und es ist doch irdisch. Aber dann frage ich mich, wieso es keiner Kultur zuweisbar ist.“
Er wollte gerade den Vorschlag machen, sich weiter umzusehen, als sie plötzlich von zwei Medienvertretern angesprochen wurden.
„Verzeihen Sie bitte die Störung – Madame – wir hätten möglicherweise ein Anliegen an Sie.“
Erstaunt sah Judy den Mann mit feinem Anzug und die Frau, die ähnlich adrett angezogen war wie sie an.
„Ja?“
„Ich bin Camille Riloré, das ist mein Kollege Gerard Bonnét. Wir haben gesehen, dass Sie sich offensichtlich sehr für die Ausstellung interessieren.“, sagte die Frau.
„Das ist richtig – ich bin Kunsthistorikerin.“
„Mit Doktortitel.“, fügte Phillippe schnell hinzu.
„Wunderbar! Wir sind vom TV-Sender ‚arte’. Wir sind im Begriff, ein neues Kultur- und Kunstprogramm aufzustellen und suchen dafür ein neues, unverbrauchtes Gesicht. Wir suchen eine attraktive Frau mit Intelligenz und Kunstverstand.“
„Sie hat alles“, erklärte Phillippe wieder – natürlich auch mit Stolz.
„Wir würden, sofern Sie Interesse haben, Sie zu einem Casting einladen“, sagte Madame Riloé weiter.
„Wobei jetzt schon feststehen dürfte, dass Sie die attraktivste von allem möglichen Bewerberinnen sein würden.“, meinte ihr Kollege.
Verlegen sah Judy den Mann an und reagierte dann mit einem kurzen ‚danke’.
Beinahe etwas hilflos sah Judy zu Phillippe. „Was sagst du, Honey?“
„Wir werden darüber schlafen.“, erklärte er. „Und in den nächsten Tagen werden wir Ihnen Bescheid geben.“
Die Frau nickte. „Wir würden uns sehr freuen, wenn wir Sie beim Casting sehen würden.“
Madame Riloé gab ihnen ihre Karte.
„Auf Wiedersehen.“
Die beiden Medienvertreter entfernten sich einige Schritte.
Judy lachte fast. „Also ich weiß nicht was ich sagen soll...“
Auch Phillippe musste seine Gedanken zu diesem neuen, unerwarteten Punkt erstmal ordnen.
„Was bedeutet das Wort ‚rubbeln’, Mommy...“, sagte Lea plötzlich.
„Woher hast du das, Honey?“, horchte Judy.
„Der Mann. Er hat gerade gesagt – ‚die würde wahnsinnige Einschaltquoten holen - so süß wie die ist - da könnte man ja sich fast einen rubbeln...“
Judy klappte der Kiefer herunter.
Auch Phillippe war überrascht. „Cherie – woher weißt du, was der Mann gesagt hat? Hast du ihn gehört?“
Lea schüttelte den Kopf. „Nein, aber sein Mund bewegt sich beim Sprechen. Wie bei jedem. Bei euch auch. Ich kann euch zu Hause auch immer sehen, wenn ihr euch unterhaltet.“
„Und das verstehst du?“
Lea nickte.
„Sie kann von den Lippen lesen?!“, sagte Judy überrascht. „In dem Alter?“
„Lea – Honey- lies meine Lippen!“
Judys Mund formte nun mehrere lautlose Worte. Lea grinste schnell und kicherte.
„Ich hab dich ganz doll lieb.“
Vorbei war für den Moment die Ausdrucksweise des Mannes von eben, Judy schloss überwältigt die Augen.
„Und was heißt das nun?“
Schon war es zurück. „Es ist eine Betätigung, die einigen Männern Spaß macht.“, versuchte Judy ihr zu erklären.
„Und das hat er gesagt, weil du eine schöne Mommy bist?“
Judy grinste und strich Lea über die Wange. „Ja, Honey.“
„Es gibt manchmal Augenblicke, da hasse ich die Evolution.“, sagte sie leise. „Eigentlich würde ich am liebsten zu den beiden hinlaufen und ihnen scheißfreundlich absagen.“
Phillippe schüttelte den Kopf. „Du kannst den Sender nicht für seine Mitarbeiter verantwortlich machen. Die Frau schien ganz in Ordnung.“
„Also drüber schlafen? Aber Honey – ich weiß doch gar nicht, wie ich mich vor einer Kamera bewegen muss. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht weiß auf diesem Gebiet.“
„Eine Moderation im öffentlichen Fernsehen“, sagte Judy abends im Bett. „Ich kann’s noch nicht glauben. Leider wissen wir noch nicht, um was für ein Konzept es sich handelt.“
„Dann sage für das Casting zu und informiere dich, Cheri.“
Judy nickte langsam und sah von seiner Brust, wo ihr Kopf lag, nach oben in seine Augen. „Das würde dann auch bedeuten, dass mich Lydia sehen kann. Wäre das eher ein Vorteil oder ein Nachteil?“
Phillippe blies die Luft aus – seine Augen irrten im Zimmer umher.
„Ich glaube, weder noch. Dass Kunst dein Beruf ist, weiß sie längst. Nein – ich denke, es könnte, sofern du es machen willst, eine interessante Erfahrung werden.“
„Solange ich nicht mit diesem Typ, dessen Verstand eher in der Hose sitzt, zusammenarbeiten muss...“
Phillippe grinste. „Cheri – die Männer sehen nun einmal auf den ersten Blick dein Äußeres. Und es ist nun einmal so, dass... dass Gott dich einem Engel gleichgemacht hat.“
Judy grinste nun auch, rollte ihren Kopf herum und küsste seinen Bauch.
„Das ist seit meiner Teenagerzeit so. Überall schauen einem die Männer hinterher. Aber so ganz habe ich mich nie daran gewöhnen können. Weißt du, ich will damit um Gottes Willen nicht sagen, dass ich unglücklich über mein Äußeres bin, aber dass die meisten Menschen oder Männer nur darauf fixiert sind, ist fast etwas traurig.“
Sie schwiegen eine zeitlang.
„Dein Vater kommt morgen mit dem Massenscanner?“
Müde nickend rieb Phillippe seine Augen.
„Wir können morgen auch Lydia das Bild des Objekts schicken. Sie wird sowieso nicht wissen, in welchem Zusammenhang wir es gekauft haben.“
Gedankenverloren fuhr seine Hand durch Judys blondes Haar.
„Wenn es tatsächlich eine Kopie des Artefakts sein sollte, stellt sich die Frage, ob eventuell auch optische Hinweise darauf vorhanden sind.“
„Damit rechne ich weniger, Honey.“
„Wieso?“
„Weil“, erklärte Judy und richtete sich im Bett auf, „der Kopist mit Sicherheit nur das Optische kopiert hat. Irgendwelche Feinheiten, die für das Auge zu klein sein könnten, werden nicht mit kopiert worden sein. Ich hatte ja bereit im Groben den Gegenstand optisch untersucht und nichts gefunden.“
„Dann brauchen wir das Original. Entweder die Amerikanerin hat es oder Lydia.“
Judy beugte sich für den Gute-Nacht-Kuss zu ihm und setzte ihre Lippen sanft auf seine.
„Süße Träume, Honey.“
Der Massenscann, den Paul am nächsten Tag durchführte, brachte in der Tat keine neuen Erkenntnisse, nur, dass sie tatsächlich die restlichen beiden Objekte noch brauchten.
„Und dir kommt er nicht irgendwie bekannt vor, Paul?“, horchte Judy beim Abendessen.
„Nein, Judy. Viertausend Jahre sind einfach zu lange her.“, schüttelte Phillippes Vater den Kopf. „Und du willst ins Fernsehen gehen?“
„Möglich. Nächsten Montag ist Casting. Dann schaue mich dort mal um.“
„Ich kann dir auf jeden Fall nur dazu raten. Es wird eine sehr interessante Erfahrung für dich werden.“
Judy grinste. „Das hat mein Honey auch gesagt.“
„Und, Lea – bist du denn schon neugierig darauf, deine Mutter im Fernsehen zu sehen?“, horchte Paul.
„Weiß nicht.“, sagte das Mädchen müde.
„Komm, Honey, ich bring dich ins Bett“, sagte Judy, nahm Lea auf ihren Arm und ging mit ihr ins Kinderzimmer, wo sie sie noch abduschte, die Zähne putzen ließ und schließlich ins Bett steckte.
„Mommy?“
„Ja, Honey?“
Judy küsste sie auf die Wange, während Leas kleine Arme sie fest an sich drückten.
„Wirst du Papa immer lieb haben?“
Judys Gesicht verzog sich etwas.
„Aber ja, Honey. Ich habe Papa ganz wahnsinnig lieb und dich auch. Und daran wird sich nie etwas ändern, nicht mal in der Ewigkeit.“
„Was ist die Ewigkeit, Mommy?“
„Das bedeutet – sehr viel länger als lange. Viel länger.“
Als Judy den Wartesaal betrat, wo bereits Dutzende von anderen Bewerberinnen warteten, war sie sich plötzlich gar nicht mehr sicher. Wieso sollte ausgerechnet sie diesen Nebenjob bekommen? Die anderen Frauen, die hier saßen, waren auch durchaus attraktiv und machten sich Chancen aus. Sie wollte sich gerade setzen, als eine Art Managerin auf sie zu kam und sie nach ihren Namen fragte. Als sie hinzufügte, Doktorin zu sein, wurde sie auch gleich nach der Studienrichtung gefragt.
„Setzen Sie sich dort vorn hin. Sie sind die Übernächste.“
„Und die anderen Frauen hier?“
„Hochqualifizierte stehen automatisch ganz vorn.“
Und so dauerte es nur eine halbe Stunde, bis man sie schließlich aufrief. Sie hatte natürlich gehofft, nicht auf Gerard Bonnét zu treffen, doch er war auch in der Runde von Menschen, derer sieben nun vor ihr saßen. Camille Riloré war ebenfalls dabei.
„Dr. Broker, ich freue mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind“, sagte die Frau von letzter Woche. Judy schüttelte ihr freundlich die Hand.
„Ich freue mich ebenfalls“, sagte Bonnét mit einem schmeichlerischen Grinsen.
Judy drückte ihm kühl seine Hand, dann wandte sie sich an die anderen, die ihr auch noch vorgestellt wurden.
„Wie läuft das jetzt ab?“
„Der Eignungstest“, sagte die Chefin – Sandrine Bouquet, „wird in zwei Bereichen ablaufen. Wir prüfen zuerst ihre Kenntnisse, die Sie aber als Doktorin ohne Weiteres haben dürften. Und dann machen wir noch einen Kameratest. Sie erhalten einen Text und präsentieren diesen vor der Kamera. Haben Sie schon einmal vor einer Kamera gestanden?“
Judy schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Allerhöchstens vor ein paar Studenten. Mich würde aber vorher interessieren, um was für ein Konzept es sich handeln soll.“
Madame Bouquet nickte. „Natürlich. Es ist zugegeben kein Neues. Es werden Gäste eingeladen, die Kunstgegenstände mitbringen, mit diesen aber nichts anzufangen wissen. Sie werden die Gegenstände grob untersuchen und den Gästen dazu einiges erzählen. Auch, was Ihrer Einschätzung nach der Wert dieser Gegenstände ist. Vor laufender Kamera. Trauen Sie sich das zu?“
Judy grinste. Das hörte sich sehr interessant an.
„Das traue ich mir zu.“
Sie merkte natürlich auch, dass Bonnét sie genießerisch ansah.
„Womit möchten Sie beginnen?“
„Mit dem Schwierigen.“
Judy bekam den Text, der gerade mal aus einer knappen halben Seite bestand. Dank der Schulungen mit Phillippe hatte sie ihn nach knapp zehn Minuten drauf.
Dann bekam sie ein paar Anweisungen zum Sprech- und Atemverhalten – und begann. Die ersten Sekunden waren natürlich ungewohnt für sie, aber nach zwei Minuten war es schon wieder vorbei und sie erhielt von Sandrine Bouquet ein erstes kleines Kompliment. Sollte sie ausgewählt werden, würde sie noch einen kleinen Lehrgang durchführen.
Dann kam der tatsächlich leichte Teil. Zwei der Testkunstobjekte stammten aus dem neuzeitlichen Europa, einer aus Afrika.
Sie sah – bei dem was sie zu erzählen wusste über die Objekte – Erstaunen, sogar im Gesicht von Madame Bouquet. Offensichtlich hatte sie Dinge gesagt, die diese noch nicht wussten...
Das Team bedankte sich für ihr Kommen und Judy bat Sandrine für ein Vier-Augen-Gespräch in den Flur.
„Was kann ich noch für Sie tun, Dr. Broker?“
„Falls es dazu kommt, dass ich ausgewählt werde, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich mich außerstande sehe, mit Mr. Bonnét zusammenzuarbeiten.“
Sandrine Bouquet seufzte laut.
„Gerard... Was hat er denn jetzt wieder angestellt?“
„Sagen wir mal, er hat mich mit einigen Worten beschrieben, die unterhalb der Gürtelgrenze liegen.“
Bouquet schwieg einen Moment.
„Ich kann mit ihm reden. Vielleicht könnte ich es auch arrangieren, dass sie ihm so wenig wie möglich über den Weg laufen. Sehen Sie es ist so...“
Bouquets blaue Augen sahen sie an.
„Gerard Bonnét gehört zu einer bestimmten Sorte von Männern, die so sind wie sie sind und es auch so bleiben werden.“ - „Sind Sie verheiratet?“
Judy nickte. „Ja. Und das sehr glücklich.“
Sandrine lächelte. „Ich auch.“ - „Was hat Gerard denn gesagt – dass Sie ‚so süß sind, dass er sich fast einen rubbeln könnte’?“
Judy nickte kaum merklich. Sandrine grinste, wenn auch eher peinlich berührt.
„Wie hält Ihre Kollegin Madame Riloré das aus?“
„Ach wissen Sie, Camille hat gelernt, derartige Sprüche von Gerard zu überhören. Gute Heimreise, Dr. Broker.“
„Ach warten Sie – ein Punkt noch, Mme Bouquet. Falls die Wahl auf mich fällt, sollten Sie gleich eine weitere aussuchen. Als mögliche Vertretung für mich.“
Sandrine Bouquet schaute einen Augenblick lang auf den Boden.
„Eine nötige Vertretung würde durch Camille erfolgen. Aber ich möchte Ihnen trotzdem vorschlagen, sofern Sie sich stark genug fühlen, trotz Ihrer Schwangerschaft zu moderieren. Wir stecken Sie in ein schickes Kleid – das kaschiert das wunderbar.“
Judy sah sie erstaunt an. „Sie wissen es?“
„Dr. Broker – ich habe in meinem Leben genug schwangere Frauen getroffen – da bekommt man fast automatisch einen Blick dafür.“
„Nicolas Dumont!“
Die Anwesenden im Saal – einer der Aikido-Meister von Frankreich, der den 8. Dan inne hatte und andere Ausbilder in höheren Graden, unter ihnen Sophie und auch Judy – klatschten und einer der fünf Geprüften schritt nach vorn und nahm seine Dan-Urkunde entgegen. Welchen Dan er erreicht hatte, wusste Phillippe nicht genau. Dann reihte sich Nicolas wieder ein.
„Carole Lerout!“
Eine weitere Dan-Trägerin nahm ihre Urkunde entgegen.
„Francoise Carombeau!“
„Philippe Soiret!“
Er war also dran und – unter dem grinsenden Blick von Sophie und dem genauso stolzen Gesicht von seiner Frau – nahm nun seine erste Urkunde, die zum 1. Dan, entgegen. Sophie und Judy hatten bereits beide den 2. Dan.
Es dauerte noch ganze zwei Wochen, bis an einem Dienstag der Anruf für Judy kam. Man hatte sie tatsächlich genommen!
Judy und Phillippe umarmten und küssten sich.
„Wie geht es jetzt weiter?“
„Ich mache wohl nachher einen kleinen Lehrgang, um das richtige Sprechen und Atmen zu üben. Und dann beginnt wohl schon die erste Produktion.“
Phillippe musterte seine Frau. „Was hältst du davon, wenn ich mit Lea und Sophie – wenn diese kann – zur ersten Produktion komme?“
Judy grinste, dann nickte sie. „Sehr gern, Honey!“
Am nächsten Tag war es bereits soweit. Zu viert fuhren sie ins Studio, wo Judy gleich in die Maske kam.
Aber bevor es begann, erbat Gerard Bonnét eine Unterredung.
Judy merkte schnell, dass er plötzlich etwas kleinlaut schien.
„Hören Sie, Dr. Broker, vielleicht ist tatsächlich etwas geschehen, wodurch wir so etwas wie einen schlechten Start hatten. Ich will eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen und keinen Ärger.“
Judy war erstaunt. Bonnét schien sich tatsächlich Mühe zu geben.
„Nun, Mr. Bonnét – wenn Sie Ihre Manieren im Griff haben, sehe ich kein größeres Problem.“
Er lächelte wieder etwas.
„Wunderbar. Und vielleicht könnte es ja möglich sein, dass man zusammen mal etwas unternimmt...“
Judy hob ihre Augenbrauen und stemmte ihre Hände in die Hüfte.
„Sehen Sie, genau das meine ich. Ein Gentleman sieht eine Frau nicht so an, als ob er sie am liebsten ausziehen will. Und was das andere betrifft – ich bin mit meinem Mann und meiner Tochter hier. Und Sie wollen doch nicht, dass ich meiner Tochter erklären muss, warum ihrer Mutter ein fremder Mann, der auch noch ihr neuer Arbeitskollege ist, ständig hinterher läuft? Nehmen Sie meinen Rat an, Mr. Bonnét – arbeiten Sie an Ihren Manieren. Ich helfe Ihnen auch gern dabei, vielleicht einen Kurs zu finden, der Ihnen dabei hilft.“
Phillippe kam mit Lea hinzu.
„Honey – du erinnerst dich noch an Mr. Bonnét?“
„Monsieur“, sagte Phillippe höflich, Bonnét gab ihm mit ausdruckslosem Gesicht die Hand.
Judy zog ihn schließlich weg – zu Sandrine Bouquet.
„Mommy, der Mann hat wieder etwas gesagt.“, sagte Lea.
„Was denn, Honey?“
Judy zeigte Lea auf ihr Ohr und sie flüsterte, worauf Judys Augen sich verdrehten.
„Na toll, man will ihm gutes Benehmen beibringen und wird dann noch als ‚verdammte Hure’ beschimpft!“
Phillippe sah, dass sich seine Frau ärgerte.
„Gerard?“, horchte Sandrine Bouquet mit geweiteten Augen.
Phillippe sah den Blick seiner Frau und wandte sich an Madame Bouquet.
„Madame, ich habe eigentlich nicht vor, mich in Ihre Belange einzumischen, aber ich fürchte, Sie müssen sich zwischen meiner Frau und Mr. Bonnét entscheiden.“
„Das habe ich.“, erklärte sie und verließ sie in Richtung ihres Kollegen.
„Ich mache jetzt diese Sendung und danach sehen wir weiter, Honey. Ihr bleibt?“
„Natürlich, Cheri.“
Es gab einen sanften Kuss, dann wurde sie von ihrer neuen Kollegin Camille abgeholt. Phillippe wurde als Zuschauer in den Senderaum geleitet und nahm mit Lea auf dem Schoß Platz.
Es dauerte noch eine Viertelstunde, dann begann es. Phillippe sah Judy mit Camille Riloré. Er sah schnell, dass seine Frau schon etwas Lampenfieber hatte, aber Camille an ihrer Seite schien ihr auch die restliche Sicherheit zu geben. Camille begann und stellte bereits nach wenigen Sekunden Phillippes Frau vor, die sich kurz etwas verhaspelte, dann aber schnell sicherer wurde. Nach geschätzten drei Minuten ging die erste Runde los und ihnen wurde eine Art Gemälde gezeigt, das Phillippe als Ikone vermutete, da auf die Entfernung von zehn Metern eine Art Person mit Heiligenschein zu erkennen war. Jedoch lag er mit der Ikone falsch, wie er von seiner Frau vor laufenden Kameras hörte.
Judy war ganz in ihrem Element und schien eher fast sich Mühe zu geben, nicht zu schnell zu viel zu sagen. Nach etwa acht Minuten bedankte sich der Gast und der zweite kam.
Zwei Tage später legte Judy mit einem Schmunzeln das Telefon ab.
„Madame Bouquet ist über alle Maßen erfreut. Sie meint, sie weiß nicht, ob es an mir lag oder an der Werbung, am Thema oder an allem zusammen – sie haben zweiunddreißig Prozent geholt und das ist offenbar gewaltig für das Thema.“
Phillippe nickte. „Ich bin sehr stolz auf dich! Ich weiß nicht, ob ich das fertig gebracht hätte.“
„Honey – du hast doch viel mehr Erfahrung mit derartigem als ich.“
Er schüttelte den Kopf. „Aber nicht mit Kameras.“
Sie setzte sich zu ihm auf die Couch und länglich auf ihn.
„Und es hat dir Spaß gemacht.“
Judy grinste vergnügt. „Und wie. Ich habe mich wie gesagt anfangs verplappert, aber dann lief es wie am Schnürchen.“
Das Telefon ging wieder. Es war Lydia.
„Judy, meine Teure – ich habe Ihre Sendung gesehen und bin durchaus beeindruckt.“
Judy verdrehte die Augen. Die Kälte in der Stimme von Phillippes früherer Frau war noch wie vor da.
„Wie schön für Sie.“
„Ja. Ach da wir gerade dabei sind – das Bild, das Sie mir geschickt haben – ich habe tatsächlich ein gleiches Exemplar in meinem Bestand. Meine Quellen sagen mir auch, dass es noch vier weitere gibt. Sie sollten sich darum kümmern.“
„Phillippe und ich haben eines erworben.“
„Nein wie aufregend! Wir werden doch nicht etwa am Ende noch in die gleiche Sammelleidenschaft verfallen?“
„Unwahrscheinlich.“
„Warten Sie’s ab, meine Teure! Ach nebenbei – was würden Sie dazu sagen, wenn ich Ihnen das ‚Du’ anbiete? Ich meine – wir scheinen uns immer ähnlicher zu werden...“
„Wir sind uns kein bisschen ähnlich, Lydia. Ich habe auch kein Interesse an einem ‚Du’.“, erklärte Judy völlig ruhig.
Lydia lachte wieder. „Natürlich nicht. Deswegen biete ich es Ihnen auch nicht wirklich an. Aber auf jeden Fall bin ich schon auf den nächsten Mittwoch neugierig. ‚H’ und ‚R’, Judy.“
Sie legte auf.
Judy ließ ihren Kopf stöhnend auf seinen Schoß fallen.
„‚H’ und ‚R’? Was heißt das denn?“, fragte sie anschließend.
Phillippe atmete geräuschvoll ein und auch genauso wieder aus.
„Honey – was heißt das?“
„Dass Lydia für dich so eine Art Mischung aus Hass und Respekt empfindet. Ich glaube, das ist ihre seltsame Art der Ehrerbietung. Sofern man das überhaupt so nennen kann.“
Judy stand der Mund etwas offen.
„Sie hasst und respektiert mich gleichzeitig?“
Phillippe nickte.
Judys Gesicht zeigte fast ekelhaften Unglauben.
„Sag mal wie gestört ist diese Frau?“
Er zuckte die Schultern. „Nun ja, Störung auf der letzten Stufe. Dort, wo es für Psychopathen wie Sie keine Rettung mehr gibt.“
„Obwohl“, meinte Judy, „vom Teufel selbst verflucht und gehasst zu werden – ist das nicht die beste Auszeichnung, die man bekommen kann?“
Phillippe grinste über beide Backen. „Ja, ich glaube schon. Aber bei engelhaften Wesen ist das auch nicht anders zu erwarten.“
Judy kicherte und umschlang in fest mit ihren Armen.
Wenige Wochen später – der Oktober ging dem Ende entgegen – merkte Phillippe, dass seine Frau ein erhöhtes Bedürfnis an Körpernähe zu verspüren schien.
Sie standen am Nachmittag in der Küche, als Judy ihn zu sich bat.
„Sei so lieb, Honey und halte mich bitte fest.“
Schmunzelnd kam er dem nach und drückte seine Frau vorsichtig an sich.
„Cheri, du bist schwanger. Wir müssen vorsichtig...“
„...ich pass schon auf, keine Sorge.“
Phillippe spürte, dass sie ihn teilweise fast krampfhaft an sich drückte. Auch ihr Kopf presste sich beinahe an seinen.
„Ist alles in Ordnung, Cheri?“
„Ich bin mir nicht sicher...“, flüsterte sie.
„Möchtest du über irgendetwas reden?“, horchte er.
Sie sah ihn für ein paar Momente nachdenklich an, nickte anschließend.
„Setzen wir uns auf die Couch.“, schlug sie vor und flegelte sich mit Phillippe hin.
„Es sind möglicherweise mehrere Dinge.“, begann sie und rieb seine Hand. „Ich habe seit einigen Nächten Albträume.“
Phillippe sah Judy überrascht an. „Albträume? Erzähl.“
„Es ist nicht sehr lange, aber trotzdem – ich sehe eine Art Flammenmeer vor mir, das sich plötzlich aufteilt – und jemand kommt heraus und...“
„Wer kommt heraus?“
Judy schlug die Augen nieder. „Es ist Raul. Er kommt durch das Flammenmeer auf mich zu mit eine Art Speer und bedroht mich.“
Phillippe war verblüfft. Seine Frau hatte einen Albtraum mit seinem verfremdeten Sohn.
„Ich weiß nur nicht, was das zu bedeuten hat.“
Ihre Augen sahen ihn an.
„Es ist zumindest sehr eigenartig, Cheri.“
„Ich überlege daher seit vorgestern, ob das mit meinem neuen Job zu tun hat. Und dann habe ich Angst.“
Er sah in ihre Augen, die direkt vor seinen waren.
„Wovor hast du Angst, Cheri?“
„Wahrscheinlich ist es Unsinn, aber ich habe Angst, der Sinn hinter all dem könnte sein, dass ich Angst habe, ich würde dich vielleicht verlieren.“
„Mich verlieren?“, fragte er erstaunt.
Sie nickte. „Es ist so undurchsichtig, Honey. Aber ich habe momentan das Gefühl, dass meine Gefühlswelt durcheinander gerät.“
„Deine Schwangerschaft könnte auch dazu beitragen.“
„Ja, das außerdem.“
Judy atmete tief durch und kuschelte ihren Kopf an seinen Hals.
„Das sieht für mich auch so aus, als hättest du momentan ein erhöhtes Liebesbedürfnis.“
Sie sah von seinem Hals hoch und nickte vehement mit halb geschlossenen Augen. „Ja.“
Grinsend begann er mit seinen Lippen und auch seiner Zunge, ihren Mund, ihr Kinn und ihren Hals zu liebkosen und an ihrer gesteigerten Atemfrequenz und ihrem leisen Stöhnen merkte er, dass sie seine Streicheleinheiten in vollen Zügen genoss.
Sie vergaßen die Zeit um sich herum, bis Phillippe irgendwann Leas Stimme hörte.
„Mommy?“
Sie lösten sich grinsend von einander und Judy winkte ihre Tochter zu sich.
„Komm her, Lea-Honey.“
Sie küsste sie herzhaft.
„Habt ihr euch gerade lieb gehabt?“
Judy strahlte Lea grinsend an. „Ja, Honey, Papa und ich haben gerade geschmust.“
Sie knuddelte sie und sah nebenbei auf die Uhr. „Und das zweieinhalb Stunden lang.“
Judy lachte aus vollem Herzen und seufzte laut.
Phillippe streichelte ihre Wange.
„Bekomme ich dann noch ein Brüderchen?“
Judy grinste ihre Tochter an. „Erst einmal das hier, Honey.“, erklärte sie und deutete auf ihren Bauch.
„Ist mein Brüderchen da drin?“
„Es könnte auch ein Schwesterchen sein, Lea“, sagte Phillippe.
Diese nickte. „Au ja.“
„Wie viel Geschwisterchen möchtest du denn noch, Honey?“
„Ich weiß nicht. Wie viele können wir denn bekommen?“
Keck grinsend sah Judy Phillippe an. „Ich weiß nicht – wie viel wollen wir noch?“
Auch er lachte jetzt. „Schauen wir mal.“
„Habt ihr jetzt nun noch ein Schwesterchen gemacht?“
Strahlend sah Judy zu ihm, dann zurück zu Lea.
„Das funktioniert ein kleines bisschen anders, Honey.“
„Und wie?“
Judy tätschelte Leas Kinn. Sie überlegte.
„Dazu müssen Papa und ich... nackt sein. Und dann haben wir uns... ganz besonders lieb“, erklärte sie und streichelte Philippe ebenfalls die Wange, „und dann kann vielleicht ein Schwesterchen passieren.“
Ihre Albträume waren vorerst vergessen und lachend und scherzend unterhielten sie sich noch eine Stunde.
Abends im Bett räkelte sich Judy hin und her.
„Hm... hm... ich fühle mich pudelwohl.“
Phillippe grinste sie an. „So muss es sein.“
„Und ich hab schon wieder Hunger.“
„Möchtest du noch einen Joghurt?“
Judy sah ihn sanft lächelnd an und schüttelte den Kopf.
„Auf etwas anderes.“
Fünfzehn Minuten später hob sie ihren Kopf und schluckte unter dem Blick eines schwer atmenden Phillippe ein paar Mal.
Sie kicherte wieder und lachte lustvoll. „Das habe ich schon lange nicht mehr getan.“
Er nickte. „Ja. Was ist mir dir los, Cheri?“
„Ich weiß nicht. Aber ich glaube, meine Gefühle spielen tatsächlich verrückt.“
Sie rollte ihren Körper einmal vorsichtig herum, so dass er ihren gewölbten Bauch streicheln konnte.
Und dann – nach ein paar Atemzügen – war sie eingeschlafen.
Anderthalb Wochen später änderte sich das Bild.
Phillippe sah seine Frau weinend an ihrer Arbeit.
„Ich kann mich kaum konzentrieren“, sagte sie, fast schluchzend.
„Wieso? Cheri – was ist?“
„Es ist eine Katastrophe! Meine Gefühle... ich...“
Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihrer Hand. Erneut rannen Tränen über ihre Wangen.
Er massierte ihre linke Hand, die sie gleich darauf ansah.
Sorgenvoll sah er in ihr gefühlsverzerrtes Gesicht.
Beinahe zornig und unter immer noch laufenden Tränen erhob sie sich – und schluchzte wieder.
In diesem Moment schwang die Tür auf und Sophie kam herein.
„Hey Schatz – stell dir vor ich hab...“
Bei Judys Anblick blieb sie stehen.
„Gott was ist denn mit dir los?“
Judy schluchzte weiter und hockte sich auf die Couch.
„Schatz – was ist los?“
Sophie holte aus einer Kommode eine Packung Taschentücher und reichte diese ihrer Freundin.
„Ich... fühle... nichts... es ist eine... Katastrophe... Gott warum fühle ich nichts?“
Verweint sah sie Phillippe an. Und hob symbolisch ihre Hand.
„Setz dich zu mir, Honey.“
Judy schloss erst mal ihre Augen.
„Ich weiß nicht, warum das passiert.“
„Vielleicht das Gleiche, was mit mir letztes Jahr los war.“, überlegte Sophie.
„Du meinst...?“
Sophie zuckte die Schultern. „Naja, die eine Woche war ich total heiß auf Francois, zwei Wochen später musste ich den Armen vertrösten, weil nichts ging.“
„Das könnte tatsächlich bei dir genauso sein.“, mutmaßte Phillippe.
„Ich hoffe es.“, sagte Judy. „Denn ich hasse diesen Zustand. Ich habe den tollsten Mann der Welt an meiner Seite... und empfinde fast nichts. Und das ist zum Kotzen!“
Erneut schnaubte sie in ein Taschentuch. Dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange.
„Du musst mir verzeihen, Honey. Dass ich so was sage... aber ich...“
„Shhht! Hör auf damit, Cheri. Das geht vorüber. Ich denke, Sophie hat Recht.“
„Ich fühle mich so schuldig.“
„Schatz – dieses Nicht-Fühlen“, sagte Sophie weiter, „ist das wie so eine Art Wattebausch, der um dich herum zu sein scheint?“
Gedankenverloren massierte Judy Phillippes Hand und überlegte etwas.
Dann nickte sie. „Ich denke ja. So könnte man es beschreiben.“
Sophie nickte gleichfalls. „Dann ist es wie bei mir.“
Eine knappe Woche später war tatsächlich alles wieder in Ordnung und vollkommen erleichtert gönnte Judy sich und Phillippe ein Liebeswochenende.
„Ich glaube, das hängt tatsächlich mit meiner Schwangerschaft zusammen. Ich verstehe es zwar noch nicht völlig, aber ich sehe keinen anderen Zusammenhang.“
„Also während der heißen Phase hattest du einen übergroßen Liebeshunger und auch Angst, wir könnten uns trennen – auch wenn das Quatsch ist, aber...“
Judy wiegte ihren Kopf. „Honey, ich weiß, dass das Quatsch ist, aber wenn meine Gefühle halt derart verrückt spielen, kommen einem halt solche Gedanken.“
Während ihre Finger mit einander spielten, dachte er schon weiter.
„Lea hat eine Gabe – nämlich sie kann, was eigentlich für ihr Alter unmöglich ist, von den Lippen anderer lesen. Und eventuell sogar noch eine Zweite.“
„Eine Zweite?“
„Als wir im Sommer rutschen waren und sie gestürzt ist, war der Arzt fassungslos, dass er keine Wunde mehr gesehen hat. Und keine Minute später wusste er von nichts mehr.“
Judy verzog ihre Augenbrauen.
„Meinst du – sie hat eine Art Gabe, das Gedächtnis anderer zu beeinflussen?“
„Es schien zumindest so. Wir sollten das weiter beobachten.“
„Und wie kommst du jetzt darauf, Honey?“
„Ich spiele mit dem Gedanken, dass dein veränderter Hormonhaushalt auf eine mögliche Gabe von unserem Kleinen hinweisen könnte.“
Judy schmunzelte. „Das ist aber sehr spekulativ.“
„Ja, ist es.“
„Wenn du darauf anspielst, dass mit das mit Lea nicht passiert ist, wäre es aber auch nicht von der Hand zu weisen.“
„Na gut. Wir wissen jetzt, dass solche Wellen durchaus bei dir auftreten können. Du müsstest nur darauf achten, ob wieder derartige Symptome auftreten.“
Judy nickte und legte sich rücklings auf ihn.
„Es war so seltsam ohne Gefühle. Es war fast, als ob ich eine andere Person wäre. Hinterher fühlt man sich fast dreckig.“
Sie machte ihr Haar etwas zurecht.
Ein paar Tage später saß sie wie üblich an ihren Studien über den Kunstschatz von Lydia, als sich Sophie zu ihr schlich und sie auf die Wange küsste.
Judy begrüßte ihre Freundin mit einem Küsschen, sah aber auch gleich, dass diese etwas loswerden wollte.
„Wir sind jetzt im selben Club, Schatz.“
Judy sah sie verwundert an. „Ihr geht jetzt auch in diese Tanzbar?“
„Nein, Schatz – wir beide haben jetzt eine Gemeinsamkeit.“
Nach ein paar Augenblicken streichelte auch Sophie ihren Bauch. Dann verstand Judy und ließ einen kleinen Schrei heraus. Dann sprang sie von ihrem Sessel und umarmte ihre Freundin.
„Wie lange weißt du es schon?“
„Seit vorhin. Ich habe den Test gemacht.“
Judy drückte Sophie, soweit es ihre eigene Schwangerschaft zuließ, fest an sich.
„Oh – das ist wunderbar, Sophie, das ist einfach wundervoll!“
„Weiß es Francois schon?“
Sophie grinste. „Nein. Aber ich überrasche ihn nachher damit.“
„Und wie weit ist es?“
„Erst am Anfang. Die dritte Woche.“
„Und was wird es? Weißt du das schon?“
Wieder schüttelte Sophie den Kopf. „Erst in einer Woche.“
Und so dauerte es dann tatsächlich noch ganze neun Tage, bis Sophie und auch Francois erfuhren, dass sie einen Jungen bekamen.
Sophie eilte wieder zu Judy und überredete diese auch gleich, zusammen mit Lea einen Einkaufsbummel zu machen.
Sie fuhren in einen der größten Märkte von ganz Paris, der im Norden lag. Da Judy trotz ihrer Schwangerschaft keine Probleme damit hatte, Lea zwischenzeitlich auf dem Arm zu tragen, blieb auch der Kinderwagen im Shuttle.
Und so durchstöberten sie ganze drei Stunden lang etliche Läden, bis sie eine Pause machten. Judy stellte Lea auf den Boden, und sie besahen sich einige Schaufenster.
Grinsend unterhielt sie sich mit Sophie, bis sie Lea dabei ertappte, dass diese jemanden hinter ihr die Zunge heraus steckte.
„Lea – ich habe dir doch schon gesagt, dass man anderen Leuten nicht...“
Sie hatte sich umgedreht, um die Person zu sehen, zu der ihre Tochter so ungezogen war.
Mitten im Satz brach sie ab, als sie den Mann erkannte.
„Raul?“
Im ersten Moment war sie überrascht, Phillippes Sohn hier zu sehen, doch sie überwand sie schnell.
„Raul – was machen Sie denn hier?“
„Hallo Dr. Broker.“
„Das ist der – von dem du mir erzählt hast?“, horchte Sophie.
„Schweig – Sklave!“, herrschte Raul ihre Freundin an.
Dieser klappte der Unterkiefer herunter. „Hat der mich gerade ‚Sklave’ genannt?“
„Hat dir Dr. Broker nicht beigebracht, zu schweigen, wenn sich Auserwählte unterhalten?“
Judy machte einen Schritt auf Raul zu.
„Raul – was hält mich davon ab, die Polizei zu rufen? Sie dürften in Italien wegen mehrfachen Mordes gesucht werden. Was machen Sie überhaupt hier? Spionieren Sie mir nach?“
Raul lachte.
„Nein, ich habe Sie nur zufällig gesehen. Ich bin in Paris wegen einer Motorrad-Rallye. Und wegen der Polizei – meine Mutter würde mich aus jedem Knast wieder heraus holen. Ich meine – für den Fall, dass es einen Knast geben würde, der für mich ein Hindernis wäre.“
Judy drückte Lea an sich.
„Wissen Sie Raul, eigentlich kann man es Ihnen nicht wirklich übel nehmen, dass Sie so sind wie Sie sind. Sie wurden so geboren. Und eintausend Jahre an der Seite von Lydia machen jeden Menschen zu einem Monster. Eigentlich trifft Ihre Mutter die meiste Schuld. Sie müsste noch wissen, was es bedeutet, ein Sterblicher zu sein. Sie war es selbst einundzwanzig Jahre ihres Leben, wie mir mein Mann erzählt hat.“
Raul kam mit einem Gesichtsausdruck, der selbst den wärmsten Ort der Welt in die Eiszeit gebracht hätte, auf sie zu.
„Vorsicht, Dr. Broker. Würde ein Sklave es wagen, meine Mutter an diese Zeit zu erinnern, würde er auf der Stelle exekutiert werden. Gerade Sie müssten doch wissen, wie notwendig es ist, diesen erbärmlichen Zustand hinter sich zu lassen.“
Seelenruhig sah Judy ihn an.
„Sehen Sie Raul, für mich war diese Zeit ein wunderbarer Abschnitt meines Lebens. Wissen Sie eigentlich, was Liebe ist? Erfüllung? Wärme? Glück? Ich vermute, dass Ihnen all das unbekannt ist.“
Rauls Blick blieb kalt. „Verschonen Sie mich mit diesem sinnlosen Geschwätz. Ich kann Ihnen nur raten, Ihre Zeit nicht mit dem Schicksal von Sklaven zu vergeuden. Wir Auserwählte sind dazu auserkoren, diese Welt zu erobern. Eines Tages werden uns alle Sklaven zu Füßen liegen. Das ist ihre einziger Nutzen.“
Noch hielt Judy Rauls eiskalter Ausstrahlung stand.
„Wissen Sie, Raul – ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn Sie damals bei Philippe geblieben wären.“
„Ich auch nicht, Dr. Broker. Die Welt gehört uns!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ Judy – nicht ohne einen Mann, der ihm im Weg stand, mit dem Kopf gegen den nächsten Pfeiler zu stoßen.
Als Judy sich wieder zu Sophie umdrehte, sah sie, dass diese schockiert, entsetzt und verstört zugleich war. Sie schien momentan auch unfähig, etwas zu sagen.
Judy umarmte und küsste ihre Freundin. Trotzdem dauerte es noch beinahe zwanzig Minuten, bis Sophie wieder fähig war, etwas zu sagen.
Im Shuttle nahm Judy sie noch einmal in die Arme, dann brach es aus Sophie heraus. Tränen liefen über ihre Wangen.
„Danke, Schatz. Das ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert.“
„Das glaube ich dir.“
Sophie sah Judy bewundernd an.
„Also ich bewundere dich da, wie gefasst du dich mit ihm unterhalten hast. Etwas so abartiges von einem Menschen – dass es so etwas noch gibt...“
„Schatz – es ist auch an mir nicht spurlos vorübergegangen.“
„Wie hast du das geschafft eben? So gefasst zu sein?“
Judy grinste leicht. „Dieses Wunder hat einen Namen.“
Auch in Sophies Gesicht huschte wieder ein Lächeln. „Aber natürlich – Phillippe.“
„Natürlich. Phillippe gibt mir so viel Kraft und Liebe, das kannst du dir kaum vorstellen.“
„Ich sehe es dir an, Schatz.“, sagte Sophie und strich ihrer Freundin durchs Haar. „Die Liebe macht dich von Jahr zu Jahr schöner.“
Judy sah sie an und lachte dann. „Da hab ich nichts dagegen. Vor allem für Phillippe.“
Sie sah nach hinten in den Kindersitz, in dem die schlafende Lea saß.
„Und für Lea.“
„Wie viele Kinder möchtest du denn noch mit Phillippe?“
Judy sah ihre Freundin an. „Ich weiß es nicht, Sophie. Nun, ein oder zwei kann ich mir auf jeden Fall noch vorstellen.“
„Und wenn er zehn Kinder will?“
„Phillippe will keine zehn Kinder, Schatz. Ich glaube aber, es wird so auf vier oder fünf hinaus laufen.“
Sophie schloss ihre Augen. „Nachdem, was heute passiert ist, werde ich wohl Francois wieder einmal die halbe Nacht beschäftigen müssen.“
„Dich zu lieben?“
Sophie nickte und Judy grinste ihre Freundin an.
„Ich muss bei Phillippe auch wieder auftanken.“
Am Abend des nächsten Tages – Sophies Ehemann war für ein paar Tage geschäftlich verreist – saßen sie zu fünft beim Essen.
„Phillippe, ich muss dich um einen Gefallen bitten, auch wenn es dir seltsam vorkommen mag.“, bat Sophie.
Phillippe nickte. „Bitte!“
„Ich möchte wissen, was damals mit Lydia geschehen ist.“
Schweigen. Sogar Judy war über ihren Wunsch etwas überrascht.
„Was genau möchtest du denn wissen?“
Sophie zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Erzähl einfach. Bitte!“
Phillippe massierte seine Hände.
„Also gut. Als ich Lydia kennenlernte – das war im Jahr neunhundertneunzig, ich selbst war damals zweihundertvier Jahre alt. Sie war einundzwanzig. Ich saß in einer Gaststube – für damalige Verhältnisse zumindest war es eine. Ich war damals noch relativ ziellos unterwegs. Ich hatte eine Fähigkeit, die ich immer noch nicht einzuschätzen imstande war. Ich hatte damals gerade so den Glauben überwunden, vom Teufel besessen zu sein. Allerdings war es auch die Zeit, in der das sogenannte dunkle Mittelalter begonnen hatte.
Und dann traf ich Lydia. Damals, als ich ihr begegnete, war sie einfaches Mädchen. Noch völlig anders als heute. Möglicherweise war, da sie als Diebin unterwegs war, der dunkle Kern in ihr schon vorhanden. Wir verstanden uns damals recht gut. Und eine Frau wie sie – sie war natürlich attraktiv – war mir damals noch nie begegnet. Und ehe wir es uns versahen, landeten wir im Bett.
Das Erwachen war jedoch grauenvoll...“
„Einen Moment, Honey.“, bat Judy, küsste ihn auf die Wange und brachte erst einmal Lea ins Bett. Fünfzehn Minuten später war sie wieder am Tisch.
„Als wir erwachten, wussten wir im ersten Moment gar nicht, wie uns geschah. Die Tür flog auf und bewaffnete Leute fielen über uns her und fügten mir und Lydia Dutzende Messerstiche zu. Das war damals das zweite Mal, dass mich die Fähigkeit, von der wir heute wissen, dass es ein fünftes Basenpaar ist, rettete. Ich brauchte acht Minuten, bis ich wieder heil war. Lydia lag noch blutverschmiert neben mir, als sie zu meiner Überraschung plötzlich nach Luft schnappte. Und auch sie war plötzlich heil.
Ich glaube, dieser Augenblick damals, war der Beginn von alledem. Wie von Sinnen schnitt sie sich immer wieder probehalber in ihre Arme, was alles wieder zuheilte. Sie lachte, lachte, lachte immer lauter.
Mir war damals noch nicht bewusst, was in ihr vorging. Wir blieben vorerst zusammen. Ein paar Wochen später merkten wir, dass sie schwanger war. Wir blieben in dieser Gegend und Lydia machte es sich zur Aufgabe, Reisende auf dem Weg nach Westen, also wohl Paris, zu überfallen und auszurauben. Für damalige Verhältnisse ging sie zu Beginn noch einigermaßen menschlich vor. Für das erste Jahr. Dann war auch Raul geboren. Neunhunderteinundneunzig.
Aber eines Tages bei einem weiteren Überfall bedrohte einer ihrer Gegner das Kind und Lydia drehte zum ersten Mal durch. Sie tötete denjenigen und fügte ihm Dutzende Messerstiche zu, obwohl er wahrscheinlich schon tot war.“
Phillippe schwieg eine Minute lang.
„Soll ich weiter erzählen oder reicht es dir?“
„Erzähl ruhig, aber warte bitte, bis wir fertig sind.“, bat Sophie.
„Zum damaligen Zeitpunkt“, fuhr er eine halbe Stunde später fort, „hatte ich gehofft, dass dieses Ereignis eine Ausnahme bleiben würde. Immerhin hatte jemand ihr Kind bedroht und eine Frau in einer solchen Lage geht zum Äußersten. Aber eine Woche später beging sie den nächsten Mord. Kurze Zeit später erneut und so weiter und so weiter. Irgendwann fing sie sogar ein Spiel an. Sie ließ sich scheinbar erdolchen oder erschießen, nur um ein Minute später wieder aufzustehen, sich an den scheinbaren Sieger anzuschleichen, und ihm dann die Kehle durchzuschneiden. Als sie sich immer abstrusere Dinge ausdachte – Raul war inzwischen schon etwa vier Jahre alt – reichte es mir irgendwann, und ich stellte sie zur Rede. Sie reagierte mehr als ungehalten, wir hatten schnell Streit und kämpften fast zwei Stunden lang. Natürlich starb keiner von uns und irgendwie hatte sie sogar daran Spaß, zu Beginn des Kampfes jedenfalls. Ich war natürlich damals sehr traurig, was aus ihr geworden war. Ich überlegte damals auch, Raul mitzunehmen, aber ich hatte keinerlei Ahnung von der Erziehung von Kindern. Und sehr intelligent war ich damals nicht. Also ging ich meiner Wege.“
Phillippe nahm sein Weinglas und nippte daran. Judy massierte leicht seine Hand.
„Ich glaube, du hättest Raul doch mitnehmen sollen. Ich meine – bei dem, was aus ihm geworden ist, hätte es nicht schlimmer werden können.“, meinte Sophie.
„Im Nachhinein betrachtet gebe ich dir sicherlich recht.“, nickte er. „Damals hätte einiges anders werden können. Vielleicht, wenn Lydia Nonne gewesen wäre oder Handwerkerin. Also wenn sie einen ehrbaren Beruf gehabt hätte.“
Phillippe lehnte seinen Kopf an die Couch und schloss die Augen. Nur Judys Berührungen spürte er. Dann fühlte er ihre warme Wange, die sich an die seine anschmiegte, ihre Hand glitt über seine Brust.
„Es ist soweit“, sagte Phillippes Vater am nächsten Abend, als er wieder zu Besuch war, „nach monatelanger Arbeit habe ich nun ein psychologisches Profil von Lydia erstellt. Aber bevor ihr es lest – Judy, ich weiß nicht, ob du es dir ansehen solltest. Das was du lesen wirst, geht so tief in menschliche Abgründe, dass es nur die Wenigsten lesen sollten. Du solltest zumindest warten, bis du entbunden hast, sonst überträgst du den Schock auf das Baby.“
Mit offenem Mund sah Judy ihren Schwiegervater an. „Ist es so schlimm?“
Paul sah Judy und Phillippe an. Und nickte. „Ja.“
„Das was hier drin steht, ist der Stoff, aus dem Alpträume gemacht sind.“
„Na gut. Könntest du auch eine Art Light-Version erstellen, die ein Normal-Fühlender sich antun kann?“
Paul überlegte einige Minuten lang. „Ich könnte eines erstellen. Möglich, ja.“
„Kann ich es mir ansehen, Vater?“
Paul hob gestenhaft die Hände kurz hoch. „Du hast lange genug gelebt, Phillippe. Und du hast das dunkle Mittelalter überstanden. Aber mache dich trotzdem auf einiges gefasst.“
Phillippe nahm das fünfundvierzigseitige Werk zögernd an sich. Sollte er sich das wirklich antun? In was würde er hineinsehen? Würde er in blanke Hölle sehen?
Er stand auf, um sich eine Flasche Wein zu besorgen.
Am frühen Morgen erwachte Judy gegen fünf Uhr, fand aber Philippes Seite leer vor. Sie zog sich einen Bademantel über und ging lief ins Wohnzimmer und fand Phillippe, dessen Hautfarbe der einer Leiche glich, in derselben Position wie am Abend zuvor. Die Weinflasche vor ihm war leer und Phillippe blickte starr auf den Tisch vor ihm.
Judy kniete sich zu ihm und umschlang seinen Hals mit ihren Armen. Sein Körper fühlte sich seltsam an. Steif und etwas kühl.
Sie begann, seine Wange zu küssen, seine Schläfe, seine Nase, seine Augen und auch seinen Mund. Nach wenigen Minuten spürte sie, wie Leben in seinen Körper zurückkehrte. Und nach insgesamt zehn Minuten begann er sich wieder zu bewegen und sah sie an.
„Wie fühlst du dich?“
„Ich habe heute Nacht in eine Zukunft gesehen, die wir um jeden Preis verhindern müssen. Das, was Lydia mit der Welt vor hat, darf niemals eintreten.“
Wieder nahm sie seinen Kopf an ihre Brust.
„Ich habe im Moment nicht einmal mehr Tränen, um den restlichen Schmerz loszuwerden.“
Judy nickte und drückte seinen Kopf immer wieder fest an sich.
„Ich bin da, mein Honey. Ich bin bei dir. Ich werde für dich weinen. Wie ich dir schon einmal gesagt habe – meine Tränen für dich. Hm – mein Liebster. Mein Liebster.“
Judy konnte Phillippes Verzweiflung und seinen Schmerz regelrecht spüren. Er zitterte immer noch.
„Nun steht auch für mich fest“, sagte er Stunden später, „dass mein Vater wahrscheinlich der beste Psychologe der Welt ist. Er hat Lydias Charakter so intensiv abgebildet, dass es schockierend und faszinierend zugleich ist.“
Er sah dass Judy und Sophie ihn gespannt ansah.
„In Lydia steckt ein Schmerz, der so tief und so groß ist, dass man ihn gar nicht überblicken kann. Es ist, als würden Milliarden Menschen auf dieser Welt so laut schreien wie sie nur können. Ein Schmerz, der so gewaltig groß ist und durch die Jahrhunderte hinweg größer wurde, dass es Lydia in den Wahnsinn getrieben hat.“
„Also dann steht fest, dass sie psychologisch gesehen wahnsinnig ist?“
Phillippe nickte. „Ja.“
„Das Traurige an der Sache ist, dass ich nicht unschuldig daran bin.“
„Wie meinst du das, Honey?“, horchte seine Frau.
„Ich komme gleich darauf. Was passiert mit einem Menschen, der jahrelang im Krieg ist? Er wird traumatisiert und nimmt einen Schmerz in sich auf. Dieser Schmerz ist dazu da, dass der Geist gesund bleibt. Ähnlich wie der Schock. Jedoch kann man nur eine gewisse Menge verkraften. Wenn aber der Geist keine Heilung erfährt und im Gegenteil immer noch Schreckensbilder auf einen hineinprasseln, baut der Schmerz einen Druck auf, der irgendwann raus muss. Doch was, wenn es kein Ventil gibt?“
„Oh Gott“, entfuhr es Judy, deren Gesicht etwas weißer wurde. „Und Lydia hat kein Ventil.“
„Das ist richtig.“
„Lydias Schmerz ist so groß, dass er einem unzerstörbaren Kessel gleicht, in dem ein Druck von Milliarden bar herrscht.“
„Es gibt ja auch Menschen, die Druck ablassen, in dem sie sich selbst verletzen. Aber bei Lydia geht das nicht. Weil sie einen derart einfachen Schmerz vermutlich gar nicht mehr wahrnimmt.“, mutmaßte Sophie.
„Auch das ist richtig.“
„Und wie können wir sie dann erlösen?“, horchte Judy.
„In dem wir irgendwann das einzige Ventil benutzen, das bei ihr noch hilft.“
„Oh mein Gott“, sagte jetzt auch Sophie, die wohl erkannt hatte, was er damit meinte.
„Honey – du hattest gesagt, du wärst auch schuld – aber wie?“
Judy setzte sich zu ihm und nahm seine Hand zwischen ihre Hände.
„Weil dadurch, dass ich sie damals verlassen habe, ich einen Teil des Schmerzes verursacht habe. Sie hätte damals wahrscheinlich meine Liebe gebraucht. Jeder einzelne Mord, den sie damals begangen hatte, war nichts anderes als ein Hilferuf. Und ich habe es nicht verstanden. Und Raul hat natürlich einen Teil des Schmerzes in sich aufgenommen.“
„Und was ist mit Raul?“, wollte Sophie wissen.
„Das Profil betrifft nur Lydia. Ich glaube auch, dass ein Profil von Raul etwas anders ausfallen würde.“
„Meinst du?“, sagte Judy.
„Auch wenn es in diesem Fall sich grotesk anhört – ich glaube schon, dass Lydia Raul geliebt hat. Sonst wäre dieser damalige Vorfall nicht geschehen. Das Unbekannte ist nur – was ist mit ihm und ihr während der Zeit geschehen, als ich nicht bei ihnen war? Möglicherweise hat Raul in dieser Zeit eine Art kalte Liebe – sofern es so etwas gibt – empfangen. Seine Mutter war also die ganze Zeit bei ihm und hat sich um ihn gekümmert, während ihr eigener Schmerz von Jahr zu Jahr größer wurde. Und deshalb dürfte auch seine Läuterung – falls sie geschehen sollte – anders ausfallen.“
„Und Lydia hat sich in all diesen Jahrhunderten nie wieder verliebt?“, überlegte Sophie.
Judy wiegte ihren Kopf. „Möglicherweise war der Schmerz bei ihr bereits groß genug, als dass sie jemanden an sich herangelassen hätte. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Gelegenheit gab für sie.“
Phillippe nickte. „Das denke ich auch.“
„Und – sie hätte dich damals bitten können, bei ihr zu bleiben. Was offensichtlich auch nicht geschehen ist.“
„Ist es nicht.“, schüttelte er den Kopf.
„Dann trifft dich nicht so sehr viel Schuld, wie du vielleicht befürchtest.“
Zwei Monate später kam Judy von der arte-Redaktion aufgeregt nach Hause.
„Wir haben eine Anfrage aus den USA erhalten. Eine Frau möchte mir ein Kunstobjekt zeigen, das all ihren Bekannten ein Rätsel ist, weil es keiner Kultur zuzuordnen ist.“
Phillippe sah sie lächelnd an. „Du meinst – es könnte sich tatsächlich um dieses Artefakt handeln?“
Judy nickte grinsend. „Ja, Honey, die Möglichkeit besteht.“
„Wann wäre es soweit?“
„Wenn alles klappt – in zwei Wochen.“
Phillippe beugte sich nach vorn und berührte mit seinen Händen nachdenklich sein halbes Gesicht.
„Dann müssen wir der Frau ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen kann.“
„Ja, mein Pate!“, grinste Judy ob des berühmten Satzes.
Auch Phillippe grinste.
„Und wenn wir es dann tatsächlich haben sollten – was... was wird es uns sagen?“
Vorsichtig strich er über den Babybauch seiner Frau, der nun eine ganz klare Wölbung zeigte.
„Und Sophie wird eine Namensvetterin bekommen?“
Judy nickte. „Ja. Ich möchte, wenn Sophie irgendwann nicht mehr da ist, eine ordentliche Erinnerung an sie haben.“
„Sie wird sich freuen.“
Vierzehn Tage später war es soweit. Für Judy hatte alles längst seinen routinierten Gang, dann traf auch der amerikanische Gast ein – mit Gepäck.
Da Phillippes Frau nun fast im achten Monat war, trug sie ein sehr weit gefasstes Kleid, aber jemand, der eins und eins zusammen zählen konnte, konnte sich möglicherweise einiges denken. Trotzdem würde dies vorerst Judys letzte Sendung sein. Sie hatte sich mit ihren Kolleginnen bereits darauf verständigt, mindestens vier bis sechs Monate Pause zu machen.
Phillippe nahm mit Lea bei den Zuschauern Platz und die Sendung begann. Insgesamt fünf kleinere Kunstobjekte wurden vorgestellt und Judy wusste wie üblich viel zu erzählen. Aber dann war es soweit. Die Mittsechzigern aus den USA kam zu ihr und packte den Gegenstand, der ihrem sehr gleich kam aus.
„Das ist wundervoll! Wo haben Sie ihn her?“
„Er gehört meine Familie seit sechs Generationen. Ich habe ihn auch schon mehreren Fachleuten gezeigt, aber niemand konnte mir sagen, was das ist.“
Judy nahm das seltsame Objekt an sich – und hatte im ersten Moment das Gefühl, als würde das Ding auf sie reagieren.
„Es ist in der Tat schwer zu bestimmen. Weder die Kunstgeschichte Europas über Jahrtausende hinweg noch viele andere Kulturen haben etwas Derartiges hervorgebracht. Einige Details ähneln zugegeben früheren asiatischen Kulturen. Aber mehr als eine etwaige Ähnlichkeit kann ich Ihnen nicht anbieten. Haben Sie es schon untersuchen lassen, aus welchem Material es ist?“
„Nein.“, meinte die weißhaarige Frau. „Jedenfalls von noch keinem Experten.“
Judy nickte. „Es fässt sich auch seltsam an. Es ist auch kein Ton oder Keramik oder dergleichen. Ich würde Ihnen an dieser Stelle vorschlagen, es bei einem Spezialisten auf seine Zusammensetzung
überprüfen zu lassen. Ich kann Ihnen gern nach der Sendung jemanden empfehlen, der sich damit auskennt. Aber im Moment kann ich Ihnen nur sagen, dass es mit keiner Kulturrichtung vergleichbar
ist.“
„Dann könnte es auch sehr wertvoll sein?“
Judy grinste breit. „Das denke ich auf jeden Fall. Ein paar Millionen bestimmt.“
Die Frau lächelte nun auch und die Sendezeit war um.
Judy wartete noch, bis sie mit der Frau dann allein war.
„Madame – ich möchte Ihnen meinen Mann vorstellen.“
Phillippe drückte die Hand der Frau.
„Sie haben aber interessante Augen, junger Mann!“
Er grinste.
„Madame – meine Frau und ich möchten Ihnen ein Angebot wegen des Gegenstandes machen.“
„Ja“, bestätigte die Amerikanerin. „Ihre Frau wollte mir einen Spezialisten empfehlen wegen des Materials.“
„Richtig. Dieser Spezialist, den meine Frau meint, heißt Paul van Hyst. Wenn er es untersucht, möchten wir Ihnen dann noch ein Angebot unterbreiten.“
„Ja?“
„Wenn Sie alles Mögliche wissen, möchten wir Ihren Gegenstand gegen eine Zahlung von mehreren Millionen Euro gegen unseren tauschen.“
Judy holte ihren Gegenstand – die Kopie – hervor und zeigte ihn der Frau.
„Das ist der gleiche!“, war das erste, was diese sagte.
„Ja, fast, aber nicht ganz.“, erklärte, Judy. „Dieser hier ist aus Ton. Ihrer dagegen ist aus einem unbekanntem Material.“
„Ahja. Jetzt, wo Sie es sagen – ja, Sie haben Recht, Dr. Broker. Und Sie wollen ihn gegen meinen Gegenstand tauschen und mich dann entschädigen, weil meiner hier mehr wert ist?“
„So ist es.“, bestätigte Philippe.
„Und an welche Summe dachten Sie?“
Phillippe sah Judy an und sie ihn.
„Welche Summe schwebt Ihnen denn so vor?“
Die Amerikanerin lächelte. „Ich dachte so an acht bis zehn Millionen. Nein, besser zwanzig.“
Phillippe hob seine Augenbrauen.
„Siebzehn und Sie dürfen dabei sein, wenn Paul van Hyst den Gegenstand untersucht und auswertet.“
Er hielt ihr seine Hand hin.
Sie grinste und schüttelte seine Hand. „Einverstanden.“
Sie luden Mrs. Thinwater – so war ihr Name – für den nächsten Tag zu sich ein, gegen Mittag kam auch Paul dazu. Und sofort sahen sie, dass die Amerikanerin von Paul fasziniert war.
Phillippes Vater packte seinen Scanner aus und stellte ihn auf den Gegenstand ein. Dann schloss er einen PC dazu an.
„Und los geht’s“
Der Scanner brauchte zehn Minuten, dann hatten sie das Ergebnis.
„Unglaublich. Achtundneunzig Prozent unbekannt. Die restlichen zwei Prozent bestehen aus oxidierten Anteilen von Quarz, Sand, Feldspat, Eisen und weiteren Metallen. Das dürfte daran liegen, dass der Gegenstand viel herumgekommen ist.“
„Und was bedeutet das, dass so viel unbekannt ist?“
„Nun, Mrs. Thinwater“, erklärte ihr Paul. „Das bedeutet, dass der Scanner nur das ausgeben kann, was ihm bekannt ist. Der Rest ist vermutlich nicht irdisch.“
„Außerirdisch?“
Paul lächelte. „Wenn Sie so wollen – ja.“
Die Frau lehnte sich zurück. „Dann ändere ich mein Angebot. Entweder fünfzig Millionen oder aber es bleibt bei den siebzehn und es gibt ein Abendessen mit Ihnen, Paul.“
Phillippes Vater deutete eine Verbeugung an. Natürlich hatte die Amerikanerin nicht die leiseste Ahnung, wer Phillippes Vater war, aber das spielte momentan auch keine Rolle.
„Es wäre mir eine Ehre!“
„Dann können Sie den Gegenstand behalten und schulden mir nun siebzehn Millionen Euro!“
Judy wollte zum Scheckbuch greifen, doch Paul schüttelte den Kopf.
„Ich mache das, Judy.“
„Was denkst du, was es sein könnte, Cheri?“, horchte Philippe am Nachmittag. Judy saß an ihn gelehnt und zusammen untersuchten sie das Artefakt.
„Sollte es eine außerirdische Rasse gebaut haben, dann dürfte es beständiger und robuster sein als alles was wir kennen.“
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Phillippe strich mit seinen Fingern über die seltsamen hebelartigen Zusätze, die aus dem Hauptkörper herausragten.
„Wenn unsere Theorie stimmt, dann ist es dafür verantwortlich, dass mein Vater und ich noch am Leben sind. Aber irgendwie habe ich das komische Gefühl, dass es auf mich beziehungsweise auf uns reagiert.“
Judy nickte. „Dieses Gefühl hatte ich gestern auch.“
Zusammen saßen sie noch bis zum frühen Abend mit dem Artefakt auf der Couch, dann kamen auch Sophie mit Lea und auch Paul wieder.
„Sophie – wir müssen dir raten, nicht allzu nahe zu kommen an das Ding“, erklärte Phillippe schnell. „Wenn unsere Theorie richtig ist, dann ist es für uns verantwortlich.“
Sophie nickte. „Verstehe. Reichen fünf Meter?“
Judy, die Lea bei sich hatte, grinste. „Komm hinter mich, Schatz. Das dürfte ok sein.“
Nun saßen sie also zu fünft um das Artefakt und beratschlagten.
Paul ließ seine Hand immer wieder über den Körper des Gegenstands gleiten und schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß es einfach nicht mehr.“
Und dann – irgendwie – schaffte er es, das Oberste der zusätzlichen ‚Hebel’ entlang der Achse herumzudrehen. Eigentlich schien das unmöglich, da alles an dem Gegenstand eins zu sein schien.
„Vielleicht“, so überlegte er, „müssen wir sie unter einander stellen.“
Mit etwas Mühe drückte er alle sieben Ausbuchtungen untereinander. Aber es passiert nichts.
„Moment.“
Nun drückte er den zweiten, vierten und sechsten genau auf die andere Seite. Kaum war das geschehen, erschraken alle, denn die Hebel flossen plötzlich in einander. Aber noch ganz andere Dinge geschahen. Der gesamte Gegenstand veränderte sich. Innerhalb von vielleicht zehn Sekunden hatten sie eine große Schablone vor sich, die an eine Art runden Spiegel erinnerte.
„Wow“, entfuhr es Lea. „Das ist toll.“
„Ja, Honey, das ist es in der Tat.“, gab ihr ihre Mutter recht.
Das nächste was sie sahen, waren seltsame, unterschiedliche Zeichenketten und –gruppen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten.
Diese änderten sich wiederum und nun hatten sie so etwas wie Formeln und weitere Zeichenketten vor sich.
„Mathematische Formeln und Komplexe“, meinte Paul. „Die uns locker ein- bis zweitausend Jahre voraus sind.“
„Genauso wie diese Formeln, die wir seit vier Jahren entschlüsseln.“, sagte Judy.
Phillippe grinste, bis er lachte. „Als ob man mit einem einfachen Rechenschieber die Relativitätstheorie nachvollziehen will.“
Sein Vater nickte. „Ja, Phillippe, der Vergleich könnte passen.“
Aber erneut änderte sich ein Teil der Formeln. Sie blickten gebannt auf die kleine Vorstellung vor ihnen. Dann tippte sein Vater auf einen kleinen Bereich.
„Das Neue hier könnten wir schaffen. Da ich auch Mathematiker bin, werde ich mich daran versuchen.“
„Vielleicht kann uns das Ding ja auch zeigen, wie du es gefunden hast damals“, meinte Sophie mehr aus Spaß.
Doch kaum hatte sie es gesagt, änderte sich die Spiegel-Oberfläche erneut und sie blickten plötzlich in eine Art Steppenlandschaft hinein.
Sie hörten sogar Stimmen. Eine davon war locker Paul zuzuordnen. Das Bild schwenkte herum – und sie sahen einen seltsam gekleideten Mann mit schwarzem Haar, leichten Bart. Es war tatsächlich Phillippes Vater.
„Bist du das, Grand-pére?“, fragte Lea.
Pauls Gesicht – im Hier und Jetzt – hatte sich ehrfürchtig verzogen. Tränen traten in seine Augen, als er in sein junges Gesicht blickte. Ein Gesicht, das sonnengebräunt und tatsächlich irgendwie jünger wirkte.
„Oh mein Gott“, entfuhr es Phillippe.
Der junge Paul – oder besser gesagt – Er-Rouanin, wie sein früherer tatsächlicher Name gewesen war, war in eine Art spärliche Rüstungsuniform gekleidet – sogar mit einem leichten Helm.
Und er sprach in einer seltsamen, fremden Sprache, die Judy nach ein paar Augenblicken als früh-sumerisch identifizierte.
„Ein Blick in die Vergangenheit“, sagte nun auch Philippes Frau ehrfürchtig.
Sie sahen weiter, wie Phillippes Vater das Artefakt berührte – und im gleichen Augenblick sich herumdrehte, da er vielleicht etwas gehört hatte. Und so konnte er auch nicht sehen, wie eine blitzähnliche Lichterscheinung über seine Hand und Handgelenk zog. Er nahm das Artefakt an sich – und hier schwankte das Bild etwas und nahm es mit zu seinem Pferd.
„Wir haben es gefunden. Wir haben es tatsächlich gefunden.“, sagte Phillippe kopfschüttelnd.
„Kommt dir die Sprache, die du damals gesprochen hast, wieder bekannt vor, Paul?“, horchte Judy.
Phillippes Vater wiegte seinen Kopf. „Entfernt vielleicht, ja.“
„Soll das heißen, das Ding hat die komplette Menschheitsgeschichte miterlebt?“, fragte Sophie fasziniert.
„Ja, Sophie, so ähnlich.“, erklärte Phillippe. „Zumindest aus seinem eigenen Betrachtungswinkel.“
„Dann lasst es uns ausprobieren!“, schlug Judy vor.
„Und auch wenn sich das jetzt blöd anhört – Computer – zeige uns die Welt zur Zeit Christi!“
Das Bild änderte sich jedoch nicht, zeigte nach wie vor Phillippes Vater.
Dieser schüttelte den Kopf. „Das müsstest du anders ausdrücken, Judy. Computer – zeige uns die Welt zweitausendzweihundert Jahre später!“
Und in der Tat änderte sich das Bild wieder. Sie sahen nun in eine Art Thronsaal hinein. Judy erkannte einige Gegebenheiten sofort.
„Das ist altägyptisch. Neues Reich.“
Paul nickte. „Ja, richtig.“
„Zur genaueren Bestimmung brauche ich ein paar Hieroglyphen, die den Pharao kennzeichnen.“
Paul tippte auf eine große Hieroglyphenansammlung. „Versuch diese.“
„Setep-en-Ptah Iri-maat-Ra.“
Judy überlegte kurz. „Das ist Ptolemaios XV! Angeblich der Sohn Caesars. Und das bedeutet, dass das wenige Jahre nach Caesars Tod sein muss.“
Lea legte ihren Kopf an die Brust ihrer Mutter.
„Müde, Honey?“
Lea nickte und ließ sich von ihrer Mutter ins Bett bringen.
Wenige Tage später war es soweit für den diesjährigen Familienurlaub von Sophie und Francois. Dieser wusste natürlich inzwischen vom Nachwuchs, der unterwegs war. Beide würden in der Champagne eine schöne Woche verbringen.
Doch bereits am Abend erhielt Judy einen erschütternden Anruf.
„Broker?“
„Guten Abend, Madame – sind Sie bekannt mit einer Sophie Lusignón?“
„Ja, Monsieur. Ich bin ihre beste Freundin. Ist etwas passiert?“
„Ich muss Ihnen hiermit mitteilen, dass Ihre Freundin einen Verkehrsunfall hatte. Der Mann Ihrer Freundin hat diesen nicht überlebt. Ihre Freundin liegt auf der Intensivstation in Paris in der Rue de la Europe.“
Vor Schreck ließ Judy das Handy fallen. Sie wurde blass im Gesicht und Tränen schossen ihr in die Augen. Dann verständigte sie schnell Phillippe und flog mit dem Shuttle so schnell es ging ins angegebene Krankenhaus.
Sie eilten durch etliche Gänge, dann hatten sie Sophies Abteil erreicht. Ihre beste Freundin so blass und im Koma liegen zu sehen, trieb Judy tränennass zu Phillippe, der sie so gut er konnte, tröstete.
„Sind Sie die nächsten Angehörigen?“, horchte ein Arzt, der zu ihnen getreten war.
„Ich bin ihre beste Freundin.“, erklärte Judy weinerlich.
„Wie hoch sind die Chancen?“
„Im Moment leider bei nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Prozent. Madame Lusignon hat vier komplizierte Knochenbrüche, etliche Abschürfungen und auch eine innere Verletzung.“
Judy schlug ihre Hände vor ihr Gesicht. „Oh Gott!“
„Dazu kommt noch, dass wir im Moment nicht genug Blut haben, um das zu ersetzen, was sie verloren hat. Es tut mir leid. Hat jemand von Ihnen beiden zufällig ‚A positiv’?
Judy sah ihn überrascht an. „Ja, ich! Ich habe ‚A positiv’!“
„Dann könnten Sie durchaus die Chancen Ihrer Freundin erhöhen. Warten Sie, ich bin gleich wieder da.“
„Cheri“, sagte Phillippe.
Judy drehte sich zu ihrem Mann um. „Es besteht die Möglichkeit, durch eine Bluttransfusion von dir, dass Sie zu Unsereiner wird.“
Judy sah ihn überrascht an. „Daran habe ich jetzt gar nicht gedacht. Aber wenn das der Preis ist – wenn der Preis zu leben der Verlust der Sterblichkeit bedeutet...“
„Du bist dir nicht sicher?“
Judy zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, ob sie... wenn sie erfährt, dass Francois tot ist... ob sie so weiterleben will oder kann.“
„Was soll ich tun, Honey?“
Phillippe drückte seine Frau noch einmal an sich. Währenddessen kam der Arzt zurück.
„Sind Sie soweit?“
Judy nickte. „Lass es uns tun, Honey.“
Sie drehte sich zu dem Arzt um.
„Ja.“
Kurz darauf war sie über einen kleinen Schlauch an Sophie angeschlossen, die nach wie vor extrem blass war.
„Was ist mit ihrem Baby?“
„Das hat bis jetzt wie durch ein Wunder überlebt. Sollte sie es jedoch nicht schaffen, dann lebt natürlich auch der Embryo nicht weiter.“
Judy nickte und drückte sanft Sophies kühle Hand. Phillippe hatte sich auf die andere Seite gesetzt. Dann begann die Übertragung.
Fünf Stunden später sah Sophie bereits deutlich besser aus. Ihr Gesicht hatte fast wieder den alten Farbton erreicht. Inzwischen hatte auch Phillippe Lea aus dem Kindergarten abgeholt und war zum Krankenbett zurückgekehrt. Nach einer Ewigkeit des Wartens schlug Sophie dann ganz langsam ihre Augen wieder auf.
Judy lächelte ihre Freundin an.
„Hallo Schatz.“
Auch Sophie grinste.
„Was... ist... passiert?“
„Du hattest einen Unfall.“
Sophies Augen begannen, umher zu irren, wurden schmal.
„Ich kann mich nicht erinnern.“
Dann bewegte sie langsam ihren Kopf.
„Wo ist Francois?“
Traurig sah Judy ihre Freundin an, dann zu ihrem Mann.
Sophie sah wartend in das Gesicht ihrer Freundin.
„Judy, wo ist Francois?“
Unabsichtlich wurde Judys Händedruck kräftiger.
„Es tut mir so leid, Sophie...“
Plötzliche Erkenntnis. Sophie schlug ihre andere Hand vors Gesicht und verzog krampfhaft ihr Gesicht.
„Nein...!!! Oh nein!!! Oh Gott nein!!!“
Judy beugte sich zu ihr und drückte ihre verzweifelte Freundin an sich, deren Körper durch Schluchzer durchgeschüttelte wurde.
Auch Philippe hatte sich jetzt näher herangesetzt und versuchte auch, Sophie zu trösten.
„Und was ist mit meinem Baby?“
„Dem geht es gut, Schatz.“
Die Tür ging auf und eine Ärztin kam herein.
„Guten Abend, Madame. Wie geht es Ihnen?“
„Ich habe keine körperlichen Schmerzen, wenn Sie das meinen.“
Die Ärztin nickte. „Mein Beileid zu Ihrem Verlust.“
Sie kam an das Bettende.
„Aber Sie sind am Leben. Ihre Freundin hat Ihnen das Leben gerettet. Und auch das Ihres Babys. Sie haben eine seltene Blutgruppe.“
Sophie sah zu Judy. „Danke, Schatz.“
„Wir behalten Sie noch vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung hier, dann können Sie wieder nach Hause.“
„Wir müssen Dir noch etwas erklären, Schatz.“, sagte Judy, nachdem die Ärztin das Zimmer wieder verlassen hatte.
„Du musst mir nichts erklären, Süße. Du hast mich und mein Baby gerettet. Und dabei wusste ich noch nicht einmal, dass wir beide die gleiche Blutgruppe haben.“
Sophie drückte Judy an sich.
„Wir müssen dir trotzdem etwas erklären, Sophie.“
Sophie sah zu Judys Mann.
„Was wäre das, Phillippe?“
„Es hat mit der Bluttransfusion zu tun.“
Sophie sah zwischen beiden verständnislos hin und her.
„Ich verstehe nicht.“
Dann saß sie mit einem Ruck auf und sah ihre verlegen aussehende Freundin an wie ein Weltwunder.
„Ich... ihr... ich... bin... wie... ihr?“
Sophie sah das Flehen in den Augen ihrer Freundin. Das Flehen um Verzeihung. Eine Minute lang wusste sie selbst nicht, wie sie reagieren sollte. Dann umarmte sie ihre hochschwangere Freundin.
„Es ist alles in Ordnung, Schatz. Ich bin am Leben. Und mein Kleines auch.“
„Dann vergibst du mir?“
Fest drückte Sophie die Judys Seite an sich.
„Schatz – es gibt’s nichts, was ich dir verzeihen muss. Ich muss mich zwar erst daran gewöhnen, aber das wird schon.“
Sie küsste Judy auf die Wange.
„Du bist meine beste Freundin und wirst es immer bleiben.“
Phillippe sah große Erleichterung im Gesicht seiner Frau.
Die beiden Frauen hielten sich noch einige Minuten in den Armen, dann sank Sophie zurück aufs Bett.
„Dann erklärt das wohl auch die schnelle Heilung?“
Phillippe nickte. „Ja.“
Sophie hielt jetzt mit beiden Händen die ihrer Freunde.
„Und wir bleiben fürs erste auf ewig zusammen? Nur Francois wird mir so wahnsinnig fehlen!“
Tränen rannen wieder aus ihren Augen und Sophie fing wieder zu schluchzen an.
Judy nahm ihre Hand, küsste sie und hielte sie an ihre Wange.
Da Sophie sie noch bat, über Nacht zu bleiben, verließ Phillippe nach einer kleinen Verabschiedung beider Frauen die Station, holte Lea aus dem Spielbereich ab und flog nach Hause.
Am nächsten Tag, einige Stunden nach ihrer Entlassung bat Sophie Phillippe und seine Familie um eine Unterredung.
„Erstens bin ich noch ziemlich verwirrt. Die neue Situation ist so schlagartig in mein Leben gekommen, dass ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll. Ich werde einige Zeit brauchen, um... um mir über einige Sachen im Klaren zu werden.“
„Natürlich, Schatz.“, sagte Judy und tätschelte ihre Hand.
„Sehen Sie, Sophie. Sie haben ab sofort so viel Zeit wie Sie möchten.“, erklärte ihr Paul. „An dieser Stelle würde ich vorschlagen, dass Ihr vier wieder einmal verreist. Es wird Zeit. Ich würde Euch Indien vorschlagen. Fliegt hin und erlebt vier schöne Wochen.“
„Gute Idee, Vater.“, nickte Phillippe.
„Das finde ich auch!“, grinste Judy und streichelte Sophie, die auch einverstanden war, übers Gesicht.
„Wie viele geliebte Menschen hast du schon verloren, Paul?“, horchte Sophie, nachdem Phillippe und Judy packen gegangen waren.
„Zusammen mit Phillippes Mutter waren es sieben.“
„Und wie bist du darüber hinweggekommen?“
„Indem ich mich wie verrückt auf andere Sachen konzentriert habe. Das mag anfangs nicht wirklich helfen, aber mit der Zeit kann eine solche Wunde heilen. Vor allem wenn man eine solche Familie hat wie du. Lass dir von Phillippe und Judy helfen.“
Sophie nickte.
„Francois wird weiterleben. In meinem Baby. Und wenn ich es mir recht überlege, ist das ein wunderschöner Name.“
Paul lächelte. „Erlaubst du mir einen Kuss auf die Stirn?“
Sophie grinste zum ersten Mal wieder. Dann ließ sich umarmen.
5 Jahre später. 2024.
Die Sonne brannte gnadenlos und ließ die Menschen ächzen und stöhnen. Hier, an der Mittelmeerküste Spaniens herrschte im Juni 2024 eine Temperatur von fünfunddreißig Grad im Schatten – und bescherte den Küstengegenden fast einen Massenauflauf.
Judy saß auf einer angemieteten Liege unter einem dunklen Sonnenschirm und las in einem e-Book einen Roman. Sophie lag neben ihr, hatte wie Philippes Frau eine Sonnenbrille auf, diese war im Gegensatz zu Judys jedoch schwarz statt blau. Und sie genoss die Wärme. Rechts neben Judy lag in einem Babykoffer – Aitana Broker, die vor vier Monaten zur Welt kommen war. Phillippes und Judys drittes Kind.
Judy hob ihren Blick von dem e-Book-Reader und sah fünfzehn Meter weiter runter ans Wasser, wo ihr Mann Phillippe und Lea herumtobten. Er hob ihre älteste Tochter auf seine Arme und warf sie dann immer ins Wasser zurück. Und beiden hatten ihren Riesenspaß dabei. Judy grinste, als sie beide beobachtete, dann ging ihr Blick zu ihrer zweiältesten Tochter Sophie Broker, die gemeinsam mit einem anderen kleinen Jungen eine Sandburg baute. Dieser Junge war niemand anders als der Sophie Lusignons Sohn Francois. Er trug den Namen seines tragisch verunglückten Vaters.
In den ersten Wochen nach seinem Tod hatte Sophie nachts weinend im Bett gelegen, so dass manchmal Judy zu ihr gekommen war und sie getröstet hatte. Aber Phillippes Vater Paul hatte auch Recht gehabt – nach einiger Zeit war der Schmerz langsam zurückgegangen. Seitdem waren Judy und Sophie mehrere Male in Indien gewesen, sprachen inzwischen sogar gebrochen Hindi und auch Urdu.
Plötzlich fiel Judy auf, dass die kleine Sophie sich scheinbar umsah.
„Wer ist da?“
Judy beugte sich zu ihr.
„Hast du jemanden gesehen, Schatz?“
„Da ist jemand.“
Da ihre Tochter scheinbar hinter sie sah, drehte sich Judy um, sah aber ‚nur’ andere Badegäste.
„Wer, Schatz?“
„Ich weiß nicht. Irgendjemand ist da.“
Nun erhob sich auch Judys Freundin und sah zu ihrem Sohn. Und Phillippe und Lea kamen aus dem Wasser zurück.
„Honey“, sagte Judy nach einem Kuss von Phillippe, „Sophie sieht irgendjemanden.“
Mann und Tochter rubbelten sich trocken.
Phillippe sah zu Sophie.
„Alles in Ordnung, Schatz?“
Seine Tochter sah ihn an. „Da ist jemand, Papa.“
„Wer? Und wo?“
„Ich weiß es nicht.“
Judy stand auf und nahm Sophie auf die Arme. „Komm, wir gehen etwas spazieren. Möchtest du?“
Sie nickte.
„Ich gehe mal mir ihr ein paar Schritte, Honey.“
In diesem Moment fing Aitana zu weinen an.
„Oh.“ - „Schatz – gehst du mit Papa?“
Da Sophie nickte, gab Judy sie an Phillippe weiter, der nun langsam davon schritt, während Judy sich hinhockte und Aitana die Brust gab.
Der kleine Francois spielte erst einmal allein weiter, bis sich seine Mutter zu ihm gesellte.
„Was hat Sophie denn gemeint, dass sie jemanden sieht?“, überlegte sie.
Judy schüttelte den Kopf. Sie war auch nicht schlauer.
„Stimmt etwas nicht mit ihr?“, horchte jetzt auch Lea, die inzwischen neun Jahre alt war.
„Ich weiß es nicht, Schatz. Ich kann mir noch keinen Reim darauf bilden.“
Zehn Minuten später kehren Phillippe und Sophie zurück – mit Paul.
Er begrüßte alle und plötzlich begriff Judy, dass Sophie möglicherweise ihn gesehen hatte.
Paul hakte nach, aber genau konnte sie es auch nicht erklären.
„Sie hat vorhin gesagt, sie würde jemanden sehen.“ – „Schatz, siehst du immer noch jemanden?“
Sophie zeigte tatsächlich auf Paul. „Ihn habe ich gesehen, Grand-pére.“
„Und wann hast du mich gesehen, Sophie?“
„Vor... ich weiß nicht... vorhin.“
Sogar Paul staunte nicht schlecht. „Da war ich noch eine ganze Ecke entfernt.“
Judy, die immer noch stillte, war auch nicht wenig überrascht.
„Kannst du das beschreiben, Schatz? Als du Großvater gesehen hast?“
Sophie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ich hab gesehen, dass er da war.“
„Nun, probieren wir es doch aus.“, schlug Paul vor. „Ich werde eine Weile spazieren gehen und du sagst mir hinterher, ob du mich wieder gesehen hast.“
„Ist das ok, Schatz?“, horchte Judy und Sophie nickte.
Es dauerte nun fünf Minuten, bis sie erneut nickte. Und zu aller Erstaunen beschrieb die Vierjährige, so gut sie konnte, dass Paul am Strand entlang ging, den einen oder anderen Haken schlug und ab und zu stehenblieb.
„Schatz – siehst du ihn direkt oder ist es mehr ein Fühlen?“, fragte Judy weiter.
„Ich weiß nicht.“, sagte Sophie zuerst. Ein paar Augenblicke später – „Nein, nicht sehen.“
Judy sah beinahe fassungslos Phillippe an. „Kann das eine Gabe von ihr sein?“
„Lea kann von jedem Menschen die Lippen lesen...“, sagte sie.
„... und Sophie kann offensichtlich Unsereiner spüren.“, vervollständigte Phillippe ihren Satz.
Paul kam schließlich nach einer halben Stunde zurück, was Sophie auch voraussagte.
Am Abend waren sie wieder im Hotel und wollten gerade zum Abendessen gehen, als jemand an der Tür klopfte.
Judy öffnete – und Mohinder Vakash stand vor ihr. Sie hatten ihn vor vier Jahren bei der ersten Indienreise kennengelernt. Mohinder war der Sohn eines weiteren Geschäftspartners von Paul. Sophie Lusignon war schnell von ihm fasziniert gewesen. Er war, wie Judy und Sophie beide zugeben mussten, ein atemberaubend schöner Mann, Ende dreißig. Und an ihm hatte es auch gelegen, dass Sophie auch bald ihren Schmerz von Francois überwunden hatte. Beim zweiten Indienbesuch von Sophie hatten sie sich verliebt – und nun stand er vor ihnen.
Judy grinste und ließ ihn eintreten. Seine Kultur erlaubte es ihm eigentlich nicht, eine verheiratete Frau näher zu begrüßen, aber Mohinder drückte Judy trotzdem einmal kurz. Das war insofern eine Überraschung, da sie mit ihm nicht gerechnet hatten.
„Mohinder!“
Dann hörte sie schnelle Schritte und Sophie flog Mohinder um den Hals. Beide küssten sich innig. Grinsend lief Judy ins Wohnzimmer zurück und half Phillippe beim Kragen, der nicht sitzen wollte. Dann war auch Lea mit einem kleinen Abendkleid fertig und zu zehnt – Aitana mitgerechnet – liefen sie ins Hotelrestaurant.
Nach zwei weiteren Wochen kamen alle gut erholt wieder nach Frankreich zurück, Mohinder konnte sogar noch eine Woche bleiben, worüber Sophie natürlich sehr glücklich war.
Zu Hause angekommen, zeigte ihnen Sebastien, der inzwischen ebenfalls Vater geworden war mit seinen inzwischen siebenundvierzig Jahren eine Überraschung.
Der letzte Teil der Entschlüsselung ihres fünften Basenpaares war zu Ende. Staunend standen sie alle davor.
Phillippe musterte mit zusammengekniffenen Augen die mathematischen und sonstigen Formeln.
"Was ist das, Mommy?", horchte Lea, die mit ihrem genauso blonden Haar ihre Mutter fragend ansah.
"Unser Geheimnis, Honey.", sagte Judy beinahe ehrfürchtig.
"Also diese Mathematik sollte kein Problem darstellen.", erklärte Paul. "Aber das ist nicht alles. Das hier sind biochemische Komplexe und hier biophysikalische."
"Wieviel Zeit veranschlagst du, Vater?", wollte Phillippe wissen.
Paul liess sich Zeit mit der Antwort. Einige Minuten vergingen.
Dann drehte er sich leicht zu ihnen um.
"Bis wir alles verstehen, wenigstens achtzig bis einhundert Jahre. Grob geschätzt."
Judy bliess laut den Atem aus.
"Und dabei ist es ja nicht so, dass wir nichts zu tun hätten.", sagte sie schmunzelnd.
DieTür ging auf und Mohinder, der im Bad gewesen war, gesellte sich zu ihnen, die Arme um Sophie legend.
"Was habt Ihr da? Was ist das?"
"Ein Teil unserer Forschung", sagte Phillippe. Obwohl er eigentlich damit nichts sagte. Beziehungsweise nicht viel. Mohinder wusste von dem Geheimnis noch nichts. Und Sophie wusste auch nicht, wie sie es ihm erklären sollte.
"Das ist zum Teil Grundlagenforschung, zum Teil Spezialforschung, Mohinder", sagte Paul.
"Das sieht sehr kompliziert aus.", gab Sophies indischer Freund zu.
"Ist es auch", grinste Sophie selbst.
Nun setzte sich Phillippe, was die anderen veranlasste es ihm gleich zu tun.
"Seht euch diese Proteinmuster an. Wir haben hier nicht nur Dutzende von Proteinvarianten, sondern auch deutlich mehr als jene einundzwanzig Aminosäuren."
"Woher habt ihr das?", fragte Mohinder, der langsam zu ahnen schien, was er vor sich hatte.
"Mohinder – wir haben ein ausserirdisches Artefakt gefunden", erklärte Paul. "Und haben es nun entschlüsselt. Das ist unsere Arbeit. Von mir, Phillippe und Judy."
Damit hatte er zwar die Arbeit beschrieben, aber den Zusammenhang zu ihnen allen nicht erwähnt.
"Ein ausserirdisches Artefakt?", sagte Mohinder laut mit offenem Mund.
"Ja, mein Lieber", bestätigte ihm Sophie.
"Ihr könntet dafür doch weitere Wissenschaftler anheuern. Das dürfte schließlich Wissen sein, das die ganze Menschheit angeht."
"Im Prinzip hast du recht, Mohinder. Aber wir kennen leider einige mehr als fragwürdige Menschen, die das gnadenlos ausnutzen wollen würden. Und dieses Risiko ist uns zu gross.", erklärte ihm Judy.
Mohinder nickte. "Ich verstehe. Da habt Ihr wahrscheinlich nicht Unrecht."
"Ausserdem haben wir ein grosses Rechenzentrum, das uns dabei sehr hilft."
"Seht euch das an", unterbrach Phillippe, und zeigte auf eine Stelle auf dem über zwei Meter grossen Bildschirm, "dieses Protein hat sechtausendzweihundert Proteindomänen! Mit siebenhundertvierzigtausend Aminosäuren."
Er sah zu seinem Vater. "Jetzt verstehe ich langsam, wieso wir eine so hohe Mathematik benötigen. Mit unseren einfachen Mitteln des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist so etwas gar nicht abbildbar."
"Da hast du recht, Phillippe. Und das bestätigt auch in etwa meine Annahme, das die Erschaffer dessen uns wenigstens zweitausend Jahre voraus sind. Wenn das reicht."
"Dafür brauchen wir... Quantenmechanik, um da einigermaßen durchzublicken."
Phillippe setzte sich nachdenklich wieder. Seine Frau sah ihn überlegend an.
"Honey – die Quantenmechanik ist noch im frühen Kleinkindalter."
"Und eben deswegen würde ich sagen, Cheri – je eher wir anfangen, desto besser."
"Nun", überlegte Paul. "Ich sehe es so – jeder von uns Erwachsenen versteht ein gewisses Maß an Physik. Und das auf einem Niveau, das sich hinter dem einiger Doktoren nicht zu verstecken braucht."
- "Aber ich gebe Phillippe recht. Hierfür brauchen wir Kenntnisse in Quantenmechanik. Es wird lange dauern – aber dafür haben wir auch Zeit genug. Ich schlage daher vor, dass wir in den nächsten Wochen alles zusammentragen, was die Menschheit über die Quantenphysik weiss und schauen, was der neueste Stand ist."
Judy zuckte die Schultern. "Ok, klingt nicht schlecht."
Wenige Tage später kam Lea mit einer interessanten Neuigkeit von der Schule.
"Wir wollen in zwei Wochen einen Klassenausflug machen.", berichtete sie.
Judys Augen wurden gross. "Wow – das klingt grossartig, Honey."
Lea setzte sich auf den Schoss ihrer Mutter.
"Allerdings fehlen noch... wie heisst das Wort gleichnochmal... ach richtig – Aufsichtspersonen. Es sollen zwei Erwachsene, also Eltern mit."
Judy nickte verstehend. "Und jetzt soll jede von Euch die Eltern Fragen, wer Zeit hat?"
Lea nickte mit ihrer blonden Mähne, die genauso blond war wie die Judys, jedoch länger war.
"Wann genau?"
"Übernächsten Dienstag."
Judy hob ihre Augenbrauen. Phillippe kam herein.
"Das würde gehen."
Judy holte sich von ihrem Mann einen Kuss.
"Was würde gehen?"
"Lea macht übernächsten Dienstag einen Klassenausflug. Das wäre der einzige Tag, der bei mir geht."
Phillippe hatte sich neben seine beiden Frauen gesetzt.
"Ach als Aufsichtsperson?"
Seine Frau nickte.
"Das wäre Ende Juli. Da kann ich leider nicht.", sagte Phillippe verdrossen.
"Aber du könntest doch mitgehen.", schlug er Judy.
Sie nickte. "Das habe ich auch vor, Honey. Allerdings... Lea, wenn du morgen in der Schule sagst, dass ich bereit stehe, sag deiner Lehrerin auch, dass ich das nur tue, wenn der andere Erwachsene ebenfalls eine Mutter ist. In Ordnung, Honey?"
Lea nickte.
"Gut, dann geh Hausaufgaben machen."
Sie küsste ihre Mutter noch auf die Wange, dann ging sie in ihr Kinderzimmer.
"Du kommst wohl nicht von deinem Männer-Argwohn weg?", fragte er und streichelte Judys Wange.
Seine Frau fuhr sich mit ihren Händen übers Gesicht und schüttelte den Kopf.
"Solange es nicht eine Mindestmenge an Männern gibt, die ich kennen würde und deren Verstand nicht in die Hose rutscht, wenn ich mich mit ihnen unterhalte, vermutlich nicht."
Phillippe nahm ihre Hand in seine beiden und küsste sie.
"Nicht, dass ich was dagegen hätte, wenn du dich mit so wenig Männern abgibst, aber du weißt, dass längst nicht alle Männer so sind."
Erneut nickte sie, mit geschlossenen Augen.
"Ich weiss, Honey. Aber irgendwie scheine ich diese Männer nicht kennenzulernen. Aber was solls – ich hab ja dich."
Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn und umarmte ihn dann fest.
Am nächsten Nachmittag, nachdem Judy von der TV-Kunstsendung wiedergekommen und Lea aus der Schule zurückgekommen war, erzählte sie.
"Neben dir hatten sich noch Patriques Vater und Jaquelines Mutter gemeldet. Als sie hörten, dass du auch mitkommen willst, wurde dann gesagt, dass du und Jaquelines Mutter mitkommen sollt."
Judy grinste. "Schön, Honey. In Ordnung."
Sie küsste Lea und drückte sie an sich.
"Dann lerne ich mal deine Klasse kennen."
- "Was macht diese Mutter von Jaqueline eigentlich beruflich?"
Lea musste überlegen. "Weiss ich nicht genau. Aber ich glaube, irgendwas mit Mode."
"Modedesign vielleicht?"
Lea nickte. "Ich glaube ja."
Zwei Wochen später war es soweit. Die Klasse, mit Klassenlehrerin – Madame Rosé - , Judy und Sandrine LeClerc, der Mutter von Leas Klassenkameradin Jaqueline, stiegen in einen Bus, der sie zwanzig Kilometer weiter in die bewaldeten Aussenregionen von Paris fuhr.
Nun wurde durchgezählt, dann ging es los. Fast alle hatten Rucksäcke mit, auch Judy hatte für sich und Lea einiges eingepackt. Und auch mit dem Wetter hatten sie Glück. Es hingen vereinzelt Wolken am Himmel, aber ansonsten schien die Sonne und trieb die Temparturen schnell auf die dreissig Grad.
Judy setzte ihre blaugetönte Sonnenbrille auf, jene, die sie sich vor ihrem damaligen Algerien-Ausflug erstanden hatte.
Die Lehrerin lief vorneweg, Judy und Sandrine bildeten den Schluss.
"Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht vor der Kamera über Kunst reden?", begann Jaquelines Mutter ein Gespräch.
"Ich arbeite für und auch mit meinem Mann in der Forschung.", erklärte Judy ihr.
"Oh – interessant! Woran forschen Sie denn?"
"Nun, ich für meinen Teil erforsche die Art und Weise, wie sich die Kunst in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat und welche Richtungen sie möglicherweise geht."
Das war zwar allerhöchtens die halbe Wahrheit, aber mehr musste Madame LeClerc auch nicht wissen.
"Ja, meine Arbeit ist ähnlich. Ich muss ständig den Markt beobachten und darauf achtgeben, dass meine Kreationen nicht untergehen."
Judy nickte und grinste, die Sonne genießend.
"Und wie lange Sie sind verheiratet?", horchte Sandrine weiter.
Judy strich sich durch ihre blonde Mähne. "Seit fast zehn Jahren. Und selbst?"
Sandrine schüttelte den Kopf.
"Geschieden seit fünf Jahren, ausserdem alleinerziehend. Es soll Männer geben, die nur ein Kind wollen. Aber mit Camille habe ich nun eine zweite Tochter. Hätte ich nicht die Firma gehabt, die zur Not auch ohne mich geht, hätte ich es wohl nicht geschafft. Und bei Ihnen ist inzwischen, wie ich gehört habe, das dritte Kind da?"
Judy nickte lächelnd.
"Dann haben Sie entweder einen tollen Kerl oder ein anderer Grund, den ich nicht kenne."
"Ja, ich habe einen tollen Kerl. Phillippe ist ein wahres Wunderwerk. Als Mensch und als Mann. Und auch als Familienvater."
Sie liefen nun einen Weg entlang, der links an einem Waldstück und rechts an einem Tal vorbeiführte. Die Sonne lugte zwischen den Bäumen hindurch und gab so abwechselnd Wärme und Schatten.
Nach einer dreiviertel Stunde gab es die erste Pause. Die Kinder wurden angemahnt, sich nicht zu weit zu entfernen. Zu diesem Zweck hatte die Lehrerin auch eine kleine Pfeife mitgebracht und erklärte den Schülern, dass ein Pfiff das Signal zum Versammeln war.
Die Kinder lachten und tollten herum und die Frauen verfielen von Neuem in ein Gespräch.
Eine halbe Stunde Pause wurde den Kindern gegönnt, danach kam das Signal und es konnte weitergehen. Eines der Kinder lief zur Lehrerin und fragte, ob man möglicherweise einen Abstecher zu einem stillen Tal machen konnte, dass über eine Brücke zu erreichen war.
Die Lehrerin vertröstete ihren Schüler bis auf Weiteres, da sie selbst nicht wusste, wo dieses Tal lag.
Eine weitere Stunde später kam man nun zu jener Abzweigung, die nach einem weiteren guten Stück Weges zur der Brücke und dann auch zu dem Tal führen sollte.
"Also da wir nicht wirklich einen Plan haben für heute, spricht nichts dagegen, denke ich", überlegte Mme. Rosé. "Oder was meinen Sie?"
Judy und Sandrine beratschlagten kurz und fanden auch kein Gegenargument.
Sie begannen nun, dem kleineren Weg zu folgen, der nur bergab führte. Die Wanderung fiel leicht und ging schnell voran und so staunte man nicht schlecht, wie schnell die Zeit verging. Es war längst Nachmittag und man aß und trank im Grünen zu Mittag. Die Kinder konnten ihre Beine und Füße ausruhen.
Der gleiche Schüler von vorhin kam dann aufgeregt zur Lehrerin.
"Dort hinten ist die Brücke! Dort hinten!"
Madame Rosé erhob sich, liess Judy und Sandrine kurzzeitig zurück und besah sich das Gefundene.
Judy sah, dass sie etwas unschlüssig wirkte.
"Also die Brücke sieht in Ordnung aus und es scheint ein idealer Ort für eine Fernsicht. Was meinen Sie?"
Judy erhob sich nachdenklich und lief ebenfalls zur der Stelle wo die Brücke begann. Die Lehrerin schien recht zu haben. Fast ein idyllischer Ort auf der anderen Seite.
Da auch Sandrine nichts dagegen hatte, wies man die Schüler an, einer nach dem anderen langsam die Brücke zu überqueren. Zwölf Minuten später waren nur noch Jaquelines Mutter und Judy übrig, die schließlich ebenfalls die Brücke überquerten. Nachdem Judy die andere Hälfte überquert hatte, beugte sie sich prüfend über die Seite und erschrak. Jede Menge Sand und Erde und Putz fielen von dem Brückengerüst ab. Judy erkannte fast zu spät, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Schnell lief sie auf das andere Ende zu, als ein Grollen hörbar wurde.
"Mommmyyyy!!", hörte sie Leas entsetzten Schrei. Das Grollen wurde lauter und im wahrscheinlich letzten Moment erreichte sie die andere Seite, wo eine erleichterte Lea sie umarmte.
Ungläubig drehte sich Judy, ihre Tochter an sich drückend, dorthin um, wo eben noch die Brücke gestanden hatte.
"Das ist nicht gut.", sagte sie.
Sie erkannte auch, dass Madame Rosé ihre Gesichtsfarbe trotz der Sonne verlor.
"Was machen wir jetzt?", horchte Sandrine.
Judy erhob sich und prüfte mit den anderen beiden Frauen, wie tief der Abgrund war, den sie eben überwunden hatten. Es schienen wenigstens vierzig Meter zu sein.
"Also da kommt niemand gesund runter.", meinte sie.
"Das sind etwa einhundertfünfzig Meter.", schätzte die Lehrerin die Entfernung zur anderen Seite.
"Was machen wir jetzt, Mommy?", horchte Lea.
"Ich nehme nicht an, dass irgendjemand ein so langes Seil hat?", überlegte Judy, die die Hand ihrer Tochter hielt.
"Ich weiss es nicht, Honey. Wir müssen wahrscheinlich Hilfe holen.", sagte sie dann zu ihr.
Madame Rosé nickte. "Ich rufe Hilfe."
Sie zog ihr Handy, erblasste aber wenige Sekunden später.
"Oh nein – kein Empfang!"
Fast wie auf Kommando zogen auch Judy und Sandrine ihre Handys – mit dem gleichen Ergebnis.
"Ok", sagte Judy, "jetzt haben wir ein Problem."
Sie liess von Lea kurz ab und besah sich noch einmal den Abgrund. Selbst wenn sie heruntersprang oder –rutschte und ihre Verletzungen unten wieder heilten – wie sollte sie dann auf der anderen Seite hochkommen?
Judy sah, dass es in Madame Rosé stark arbeitete. Die Frau machte sich Vorwürfe.
"Sie können nichts dafür, Madame.", versuchte sie sie zu beruhigen. "Niemand hätte ahnen können, dass die Brücke so kaputt war. Und es war auch kein Hinweis zu sehen deswegen. Ausserdem sind Sie keine Bauexpertin, die etwas derartiges einschätzen kann."
Die Lehrerin lächelte etwas. "Danke."
"Wir müssen unsere Vorräte prüfen.", schlug Sandrine vor.
Judy und – wie sich jetzt herausstellte Carole, wie die Lehrerin mit Vornamen hiess – waren einverstanden.
Die Vorräte waren soweit zur Hälfte aufgebraucht und Judy schätzte, dass ein Kind für den Rest des Tages einen bis anderhalb Liter benötigten.
Judy überlegte – wo war Phillippe jetzt? Zu Hause wahrscheinlich. Konnte sie ihn irgendwie ausser mit dem Handy erreichen? Schlagartig fiel ihr der Notsender ein, den sie ständig um ihren Hals trug. Dies war eine Notsituation.
Sie unterrichtete Carole und Sandrine sowie auch Lea darüber und aktivierte den Sender. Es gab nur ein Problem – solange Phillippe den Empfänger nicht einschaltete, half auch das wenig. Aber sie vermutete, wenn er merkte, dass sie nicht zurückkehrten, würde er beginnen nachzudenken. Und dann war schon die Hälfte gewonnen.
"Gut", sagte Carole, "ich würde vorschlagen, dass die Kinder solange im Sichtbereich spielen können. Viel mehr können wir nicht machen."
Judy und Sandrine nickten.
"Sie sollten sich nicht allzu sehr verausgaben. Sonst gehen die Vorräte zu schnell zur Neige.", gab sie zu Bedenken.
"Mommy", horchte Lea . "Können wir nicht ganz laut um Hilfe rufen?"
Judy sah ihre Tochter überlegend an. Leas Gedanke war alles andere als schlecht. Aber würde sie hier draussen überhaupt jemand hören?
"Warte – da ist jemand!", sagte Lea, ehe sie antworten konnte.
Sie begann mit ihren Armen durch die Luft zu wedeln und als auch Judy und die beiden Frauen zwei Menschen drüben erblickten, taten sie es ihr gleich. Einer der beiden anderen drüben – eine Frau vermutlich – winkte zurück. Sie erkannte offensichtlich ihre Situation nicht. Der Mann jedoch kam so weit wie möglich auf sie zu und schien etwas zu rufen. Aber auf die Entfernung konnten sie ihn nicht verstehen. Selbst wenn...
Judys Kopf ruckte zu Lea. Aber konnte diese auf eine so grosse Entfernung von den Lippen lesen?
"Hat jemand ein Fernglas dabei?"
Es wurde herumgefragt – und tatsächlich hatte ein Mädchen ein neumodisches Fernglas dabei, das jedoch eher an ein Objekt aus einer SF-Serie erinnerte.
Carole war von dem Vorschlag, Lea durchsehen zu lassen und dadurch von den Lippen lesen zu lassen, begeistert. Natürlich wusste sie längst von Leas – für ein Kind diesen Alters seltene – Begabung.
Das Mädchen, dem das Fernglas gehörte, stellte es ihr ein – und schnell blickte Lea hindurch.
"Er will wissen, ob wir Hilfe benötigen?"
Judy wuschelte ihrer Tochter durch ihr Haar.
"Kommt – lasst uns alle zusammen nicken. Das sollten sie sehen."
Sie nickten also zusammen und Lea las wieder. "Ich glaube, er hat verstanden."
"Jetzt holt er sein Handy heraus." – "Welches auch nicht funktioniert..."
"Das hätte mich auch verwundert", sagte Sandrine.
"Ok – er sagt er holt Hilfe."
Der Mann entfernte sich tatsächlich. Die Frau blieb offensichtlich – und rief auch etwas.
"Sie möchte wissen, ob wir etwas brauchen?", las Lea weiter.
"Wasser", waren sie die Frauen schnell einig.
Judy hob ihre Wasserflasche hoch und winkte damit. Ob die Frau nun gute Augen hatte... jedenfalls las Lea nun, dass die Frau auch das verstanden hatte.
Judy beugte sich zu Lea und küsste die Grinsende.
"Das machst du gut, Honey."
"Jetzt erleben wir ein Abenteuer, Mommy."
Judy strich ihr wieder durchs Haar. Sie konnte nur hoffen, dass Phillippe so bald wie möglich ihr Signal empfing.
Sie sah zu den Kindern, von denen die meisten sich hingesetzt hatten und alle möglichen Kinderspiele spielten. Beschäftigung war vom psychologischen her das Wichtigste. Das tatsächlich Wichtigste war jedoch Wasser. Gab es in diesem Tal hier vielleicht eine Quelle?
Sie stellte Carole und Sandrine die Frage.
"Ich weiss es nicht.", erwiderte die Lehrerin. "Aber da ich die Verantwortung trage, werde ich mich auf die Suche machen."
Sie unterrichtete die Kinder und entfernte sich dann. Was würden sie erst tun, wenn es dunkel wurde? Sie sah auf die Uhr. Es war halb vier. Wie lange würden sie alle durchhalten? Die Vorräte würden bis zum Abend reichen. Und dann? Ihnen musste ein Lösung einfallen.
"Ich schätze mal", meinte Sandrine,"dass die ersten Eltern gegen frühen Abend unruhig werden dürften. Sagen wir mal so gegen achtzehn Uhr. Und gegen zwanzig Uhr werden die ersten merken, dass wir nicht erreicht werden können. Dann folgt man unserer Spur. Im schlimmsten Fall dürfte man uns in den frühen Morgenstunden finden."
Judy nickte. "Ich hoffe, Sie haben recht."
Da nun auch die Frau auf der anderen Seite eine Pause machte, schickte Judy Lea erst einmal wieder zum Spielen zu ihren Kameraden.
Dann überlegte sie. Sie mussten versuchen, so weit wie möglich den näheren, umliegenden Bereich zu erforschen. Sie unterrichtete Sandrine von ihren Gedanken, die von der Idee durchaus angetan war. Vielleicht fand man ja so per Zufall schon Wasser. Auch wenn die Lehrerin in dieser Mission bereits unterwegs war.
Sie sprach sich ab, dass erst Judy, danach Sandrine für eine Stunde einen Einzel-Erkundungsgang durchführen würde.
Judy gab ihrer Tochter Bescheid, die aber darauf bestand, mitzukommen. Und Judy gab dem gern nach. Sie orientierten sich nach der Sonne und achteten so darauf, die Richtung nicht aus den Augen zu verlieren.
So verbrachten Mutter und Tochter eine angenehme Stunde zu zweit – ohne aber erstmal Wasser zu finden. Dann kehrten sie ins provisorische Lager zurück, wo nun Sandrine mit ihrer Tochter aufbrach. Wenige Minuten später kehrte auch die Lehrerin zurück – leider ebenfalls ohne Erfolg.
Die Kinder waren trotzdem nach wie vor in guter Stimmung und in vier Gruppen wurde fast ohne Unterlaß gespielt. Doch die Vorräte gingen mehr und mehr zur Neige.
Lea war inzwischen wieder zu einer der Kindergruppen zurückgekehrt und Judy und Carole beratschlagten weiter.
Judy spürte, wie von Stunde zu Stunde die Angst und Sorge der Lehrerin wuchs. Judy glaubte zwar zu erkennen, dass die Frau auf der anderen Seite immer noch zugegen war, doch wirklich weiter half ihnen das im Moment nicht.
Sie hoffte sehr, dass Phillippe so bald wie möglich an den Notsender dachte und die Verfolgung ihrer Spur aufnahm.
Dann brach der frühe Abend an. Die Wasservorräte waren bis auf wenige Liter aufgebraucht. Einen Liter hatte Judy noch für sich und Lea, von dem sie aber das meiste davon ihrer Tochter zugestehen würde.
"Komm endlich, Phillippe. Schalt den Empfänger ein...", murmelte und betete sie teils.
Einige der Kinder hatten nun sogar langsam begonnen, sich zu einer provisorischen Ruhe zu legen. Judy überlegte – sollten sie eventuell es in einer anderen Richtung versuchen? Woanders nach Wasser suchen?
Da die Lehrerin nun da war, beschlossen Sandrine und Judy, es noch einmal zu versuchen. Die Kinder blieben dieses Mal jedoch im Lager.
Wieder suchten sie über eine Stunde – vergeblich. Gegen kurz vor acht Uhr kehrten sie zum Lager zurück. Lea war inzwischen eingenickt. Judy strich ihrer Tochter sanft übers Haar und überprüfte ihren Vorrat, der nur noch aus ein paar Schluck bestand. Da inzwischen ihr Durst angestiegen war, trank sie den Rest.
Die Schatten wurden länger und sie konnten nicht wirklich sehen, wie die Sonne auf den Horizont hin sank.
Wie lange konnte ein Mensch ohne Wasser auskommen, überlegte sie. Zwei Tage? Drei Tage? Dann würde eine Dehydrierung erfolgen. Aber soweit würde es nicht kommen, war sie überzeugt. Sandrine und die Lehrerin dachten ähnlich.
Die meisten Kinder hatten sich nun hingelegt, einige unterhielten sich noch leise. Dann – es war inzwischen halb neun durch - sah Judy per Zufall einen neuen Wanderer auf der anderen Seite, der ihnen zuwinkte.
Judy erhob sich schnell und winkte zurück – mit der Wasserflasche in der Hand, die leer war. Der Mann rief etwas.
Einen Moment zögerte sie mit einem Seitenblick auf ihre schlafende Tochter, dann weckte sie sie aber.
"Komm, Honey, wir brauchen noch einmal deine Hilfe."
Lea nickte sofort und lief mit Judy ein paar Meter bis zurAbgrenzung. Das Fernglas hatte sie noch dabei.
"Er will wieder wissen, ob wir etwas brauchen."
Sandrine und Carole hatte sich inzwischen zu ihnen gesellt.
Judy hob ihre Hände und deutete mit ihrer freien Hand auf die Wasserflasche.
"Er meint, etwa achthundert Meter weiter gibt es eine Quelle, die aber sehr schwer zu erreichen ist!!", sagte Lea aufgeregt.
Zusammen nickten sie und der Mann beschrieb ihnen nun den Weg. Sie dankten den Mann – sofern das auf die Entfernung möglich war - und Carole und Judy sammelten alle Wasserflaschen ein und machten sich auf den Weg.
Wie sich herausstellte, lag die Quelle sehr nahe der letzten Erkundungstour von Judy und Sandrine und Judy ärgerte sich, diese nicht entdeckt zu haben.
"Machen Sie sich keine Vorwürfe. Wir sind keine Pfadfinder.", meinte Carole.
Dass der Mann das Erreichen der Quelle als schwierig beschrieben hatte, stellte sich nun als Tatsache heraus. Denn die Quelle lag nun in einer kleinen Schlucht, fünfzehn Meter unter ihnen. Sie war auch nicht so gross, dass man sie hätte hören können.
Judy und Carole sahen schnell, dass hier viel überwuchert war. Sogar einige Kletterpflanzen standen zur Verfügung. Judy entschied schnell, den Abstieg zu versuchen und lief auf die erste 'Liane' los. Sie zog ein paar mal kräftig an der Pflanze, die jedoch nicht nachgab.
Sie nickte der Lehrerin zu, die an ihre Seite gekommen war. Dann schwang sie sich hinunter. Und nun machte sich auch bemerkbar, dass sie – vielleicht schon durch ihr fünftes Basenpaar – durchaus Kraft in den Armen hatte. Ihre Hände fassten flink weiter und weiter nach unten und nach einer halben Minute war sie unten angekommen.
Dann sah sie die Quelle wenige Meter neben sich, innerhalb einer kleinen Felsansammlung. Sie lief hin und kostete. Dann grinste sie. Köstlich!
Inzwischen war auch Carole auf dem Boden angekommen und gemeinsam füllten sie die Flaschen der Kinder.
"Ich hoffe nur, wir kriegen das alles hoch.", überlegte die Lehrerin.
"Das wird schon. Sie nehmen so viel, wie Sie tragen können, den Rest nehme ich."
Carole nickte.
"Meinen Sie, Ihr Mann hat inzwischen Ihr Signal erhalten?"
"Das hoffe ich. Aber ich denke – ja."
Nach knapp zwanzig Minuten hatten sie alle Flaschen gefüllt und steckten diese nun wieder ein. Carole schwang sich ihren Rucksack über.
"Oh Gott. Jetzt weiss ich wieder mal, wie sich vierzehn Kilo anfühlen. Ich hoffe, wir kommen damit hoch."
"Uns fällt schon was ein.", ermunterte Judy sie. Judy selbst hatte nun geschätzte zwanzig Kilo an Wasser im Gepäck.
Obwohl sie sich sicher war, mit den zwanzig Kilo es nach oben zu schaffen – sie war sich nicht sicher, ob es Carole schaffen würde. Ein wenig zierlich war diese schon.
Und tatsächlich – die Lehrerin schaffte es nur bis zur Hälfte, dann kam sie mit Mühe wieder nach unten.
"Dann machen wir es anders.", schlug Judy vor. "Ich klettere nach oben, Sie binden inzwischen ihren Rucksack an einer der Pflanzen fest und ich ziehe es dann hoch. Und zur Not Sie auch."
Carole war einverstanden und staunte nun, mit welcher Kraft Judy in zwei Minuten die fünfzehn Meter nach oben schaffte. Mit zwanzig Kilogramm Wasser im Gepäck.
"Gott haben Sie Kräfte!"
Sie hatte inzwischen ihren Rucksack festgebunden, Judy schaute zu sich hoch, welche der Pflanzen sie ziehen musste – dann war auch dieser Rucksack schnell bei ihr. Nun kletterte Carole teils, teils zog Judy auch sie hoch.
"Haben Sie Dank, Judy. Das hätte ich nicht geschafft ohne Sie!"
Inzwischen war es dunkel geworden und Judy holte eine Taschenlampe heraus, über die sie zurückfanden.
Die Kinder wurden geweckt und tranken durstig. Lea gleichfalls. Danach ging es zurück zur Abendruhe.
Judy unterhielt sich nun in gedämpfter Lautstärke mit Carole und Sandrine und die Zeit verging.
Gegen halb elf uhr abends zog sich Judy ihre Weste über, da sie ein wenig fröstelte. Inzwischen waren sich die Frauen auch einig, dass man längst nach ihnen suchte.
Judy überlegte – wo war Phillippe jetzt? Hatte er sich um Aitana gekümmert und ihr zumindest Milch aus der Flasche gegeben? Mit Sicherheit. Auf ihren Mann konnte sie sich hundertprozentig verlassen. Sie grinste. Derartige – wenn man es so nennen wollte – Zwischenfälle zeigten Phillippe und ihr immer wieder, wie viel sie sich bedeuteten. Ihre Ehe. Ihre Familie. Die Kinder. Ihr Leben...
Gegen halb zwölf wurden dann auch sie müde und mit Gedanken an ihre Familie legten sich nun die ersten beiden Frauen schlafen. Judy würde bis halb drei Wache halten, dann Carole und schließlich Sandrine.
Judy zog die schlafende Lea vorsichtig zu sich und begann, den Mond zu beobachten, der vor einer halben Stunde aufgegangen war.
Viele Gedanken zogen ihr durch den Kopf während ihrer Wache, irgendwie verging die Zeit und schliesslich weckte sie die Lehrerin.
Dann schloss auch sie müde die Augen. Doch viel Ruhe bekam sie nicht, denn sie wurde durch einen Kuss geweckt. Es war kurz nach drei Uhr morgens.
Phillippe! Judy rieb sich die Augen und sah fünfzehn Meter weiter ihr Shuttle.
"Gut, dass du an das Signal gedacht hast, Cheri."
Vor Freude küsste sie ihn noch einmal und Sandrine wurde geweckt. Man beratschlagte ein paar Sekunden und Phillippe schlug schnell vor, mit dem Shuttle zurückzufliegen und die Polizei, die inzwischen schon benachrichtigt war, hierher zu lotsen.
Der Unterricht am nächsten Tag wurde auf zwölf Uhr verschoben und man arbeitete noch einmal alles auf. Lea bekam von allen ein grosses Lob, da man es nur dank ihr geschafft hatte, das Wasser zu besorgen.
Durch die Aussagen von Judy und Sandrine wurde Carole, die Lehrerin, im Grossen und Ganzen entlastet und durfte weiter die Klasse führen. Lediglich wurde bestimmt, bei einem nächsten möglichen Ausflug die Strecke vorher fest zu planen.
Paul, Phillippe und Judy setzten privat nun alles daran, sich nun um die Aufschlüsselung, Erforschung und Entdeckung der Geheimnisse des Artefakts zu kümmern. Was vor ihnen lag, schien gigantisch. Wissen von ungeheurem Ausmaß. Wie, wann und in welcher Form sie dem ausserirdischen Artefakt seinen kostbaren Inhalt entlocken würden, war kaum absehbar. Jedes Mal, wenn sie einzeln oder gemeinsam versuchten, in eine Kette von Algorithmen mathematischer, physikalischer oder chemischer Natur einzudringen, erkannten sie wieder und wieder, wie gering und eigentlich fast unbedeutend das war, was sie wussten oder zu wissen glaubten. Denn das Wissen, das sie hatten, schien wie ein Staubkorn zu sein – und das, was wahrscheinlich im Artefakt enthalten war – die Erde? Die Sonne? Oder gar das Universum?
Hier ist die Geschichte zu Ende. Sollte sie Euch gefallen haben, würde ich mich über eine Spende sehr freuen! :)
33VDj75QekQ1ZsuZX9dizWeGy9jzRewSMn